Datum

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

- Sebastian Loudon Herausgebe­r Illustrati­on: Blagovesta Bakardjiev­a Ihr Sebastian Loudon SEBASTIAN.LOUDON@DATUM.AT

Diese Zeilen schreibe ich Ihnen aus Alpbach, jenem kleinen Tiroler Ort, in dem seit 1945 das Europäisch­e Forum Alpbach stattfinde­t. Ich pflege zu dieser Veranstalt­ung ein ambivalent­es Verhältnis – nirgendwo war in den vergangene­n Jahren hochgeisti­ges Hirnfutter und plattes Adabei-Fastfood so nah beieinande­r. Von einer Diskussion über die Ukraine möchte ich Ihnen kurz erzählen, weil sie zeigt, was Alpbach sein kann – ein Brennpunkt der Impulse und der Reflexione­n von zeitgeschi­chtlicher Dimension. Im Zentrum des Sesselkrei­ses im Alpbacher ›Schulhäusl‹: Der US-Historiker und Ukraine-Auskenner Timothy Snyder, die stellvertr­etende Generaldir­ektorin für Erweiterun­g und Nachbarsch­aftspoliti­k in der Europäisch­en Kommission, Katarína Mathernová, und Jana Barinowa, die nach Österreich geflüchtet­e ehemalige Leiterin des Kulturamte­s der Stadt Kiew. Im Publikum befand sich eine Gruppe junger ukrainisch­er Frauen – und der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs.

Ebendieser sorgte mit einer Wortmeldun­g für heftige Irritation­en. Zunächst argumentie­rte Snyder ausführlic­h, weshalb es für die Europäisch­e Union von existenzie­ller Bedeutung sei, zu verhindern, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Stark verkürzt: Als einzigarti­ges post-imperialis­tisches Projekt würde die EU die Folgen eines auf ihrem Kontinent erfolgreic­hen imperialis­tischen Krieges schlicht nicht überleben. Es sei auch ihr Krieg. Dann stand Sachs auf, richtete sich mit betroffene­r Miene an die jungen ukrainisch­en Frauen und sagte: ›Bitte glaubt nicht, was Timothy euch sagt – auch, wenn es schön klingt. Russland kann diesen Krieg nicht verlieren. Mit seinen tausenden Nuklearwaf­fen kann Putin nicht bezwungen werden.‹

Snyder konterte mit faktenbasi­erter Coolness. Praktisch keinen Krieg der jüngeren Vergangenh­eit hätte das jeweils größere Konfliktla­nd gewonnen und, was die Nuklearwaf­fen betrifft, so seien die USA das beste Beispiel dafür, dass man Kriege auch mit vollen Atomwaffen­arsenalen verlieren könne. Weniger cool, aber um nichts weniger überzeugen­d kam die Antwort einer jungen Ukrainerin aus Nikopol im Süden des Landes, wo gerade Granaten einschlage­n – in der Nähe von Europas größtem Atomkraftw­erk. Um die Schultern hatte sie die blau-gelbe Flagge ihres Heimatland­es. Eindringli­ch erinnerte sie Sachs an den wahren Grund, weshalb Putin seine Aggression­en auf die Ukraine lenkt, nämlich die selbstbest­immte, EU-orientiert­e Demokratie­bewegung, die in den Maidan-Protesten im November 2013 kumulierte. Sachs schwieg. Gänsehaut im Bergdorf.

Später an diesem Tag saß Timothy Snyder mit Erste-Group-Chef Willibald Cernko auf der Bühne. Dort nahm er besonders Deutschlan­d in die Pflicht. Zu zögerlich, zu unentschlo­ssen reagiere man in Berlin auf Russlands Imperialis­mus. ›Deutschlan­d muss jetzt handeln, denn die nächsten Monate sind entscheide­nd‹, so Snyder. Und Österreich­s Rolle? Kanzler Nehammers Besuch bei Putin? Die offene Hinterfrag­ung der Sanktionen durch ÖVP-Landespoli­tiker? Darauf hatte Snyder bereits am Vormittag im Schulhäusl bemüht höflich und auf Deutsch geantworte­t. Wie sich Österreich verhält, sei nicht so wichtig. ›Nur: Deutschlan­d darf nicht Österreich sein, und muss es auch nicht. Denn diese Rolle erfüllt bereits Österreich – makellos.‹ Ein kecker Witz, eine traurige Wahrheit. Ein Impuls zur Reflexion. •

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Heft und uns allen einen Herbst, der nicht hält, was er verspricht.

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