Der Verlust der nahöstlichen Wurzeln
Die Christen gehören zum Nahen Osten – und der Nahe Osten zum Christentum. Aber die religiöse Vielfalt der Region, ein Teil ihres kulturellen Reichtums, ist infrage gestellt, und auch immer mehr Christen geben auf.
Eines ist sicher, sie waren bereits vor dem Islam da, der sich im 7. Jahrhundert ausbreitete: die verschiedenen autochthonen (einheimischen) Christengruppen im Nahen Osten und im Maghreb. Das Bild von „den Christen“stimmte jedoch auch damals nicht mehr, sie waren bereits zersplittert, nach den Konzilien von Ephesos (431) und Chalzedon (451). Und das Aufkommen des Islam wurde von manchen zuerst als Befreiung von der byzantinischen Herrschaft empfunden.
Die nahöstliche Identität der Christen bekam mit den Kreuzzügen, aber vor allem viel später mit dem Kolonialismus Kratzer: sowohl in den Augen von Teilen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung, die in den Christen plötzlich so etwas wie eine 5. Kolonne des Westens sahen, als auch im Westen selbst, der die nahöstlichen Christen als kulturell dem Westen zugehörig ansah. Eine Absurdität: Denn dazu muss man erst einmal verdrängt haben, dass das Christentum eine nahöstliche Religion ist (was ja der Ritus nicht verbergen kann). Die Vereinnahmung der nahöstlichen Christen durch wohlmeinende Politiker ist auch heute ein zweischneidiges Schwert: einerseits Schutz – und andererseits Stigmatisierung.
Wahrnehmung als „fremd“
Zu den autochthonen Christen kamen mit dem Kolonialismus die Missionare westlicher Kirchen (wie der Protestanten), die die Wahrnehmung des Christentums als „fremd“verstärkten. Und manche autochthone Christengruppe band ihr Schicksal aus politischen Gründen an Europa, wie die Maroniten mit ihrer engen historischen Beziehung zu Frankreich.
Eine der Folgen war im 20. Jahrhundert das Aufkommen des politischen Islam, der durch die postkolonialen diktatorischen Regime in Schach gehalten wurde – die „ihre“Christen zum Teil erfolgreich kooptierten: von Tarik Aziz, Saddams Langzeitaußenminister, über den verstorbenen Koptenpapst Shenouda, der Mubarak bis zuletzt treu blieb, bis zu den syrischen Christen, die teilweise das, was danach kommen könnte, mehr fürchten als Assad.
Wasserdichte Zahlen gibt es nicht, eine der Schätzungen besagt, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung Standard: Wie lebt man als Christ in der Türkei? Dora: Ich habe meine Identität als Christ immer offen leben können. Doch ich habe in Istanbul und Ankara studiert, das sind Metropolen. In Anatolien ist man da schon aus einer psychologischen Angst heraus vorsichtiger, weil hier den Christen in der Vergangenheit so viel widerfahren ist. In den kurdischen Regionen hat sich die Lage in der letzten Zeit aber sehr positiv entwickelt; es ist mehr Solidarität zwischen Kurden, Arabern und Christen zu sehen. Christen waren, und dass dieser Anteil auf etwa fünf Prozent gefallen ist. Nicht nur Auswanderung aufgrund von Verfolgung ist dafür verantwortlich, sondern auch die niedrigere Geburtenrate – die auf Wohlstand hinweist – und Emigration aus wirtschaftlichen Gründen. Aus Ländern wie dem Irak nach 2003 (Fall von Saddam Hussein) gehen Christen auch weg, ohne sich festzulegen, ob es nur temporär oder definitiv ist. Das geschieht natürlich auch deswegen, um Besitzansprüche leichter aufrechterhalten zu können. Aber das macht Statistiken schwierig.
Das Christentum im Irak – namentlich die mit der römisch-katholischen Kirche unierte chaldäische Kirche – hat in den vergangenen Jahren besonders gelitten: 2006 wurde etwa der letzte Erzbischof aus Basra, das seit dem 5. Jahrhundert Erzbischofssitz war, abberufen. Dass Gabriel Kassab nach Sydney versetzt wurde, um dort das neu begründete chaldäische Bistum für Ozeanien zu lei- Standard: Sie sind seit langem der erste christliche Abgeordnete ... Dora: Ja, es gab damals ein sehr großes Medieninteresse. So sollte es aber nicht sein, ich bin ein Bürger wie andere auch. Meine Kandidatur war nichts Abnormales. Standard: Wo liegen die Probleme für die Minderheiten? Dora: Etwa beim Verfassungsstatus des oder der Einzelnen. Momentan gilt jeder Bürger als Türke, also als Muslim. Wir wollen eine neue Verfassung, in der sich alle ethnischen und religiösen ten, zeigt, wo „seine“Christen jetzt – auch – sind.
In Ägypten hat sich nach der Revolution 2011, die für eine kurze Zeit alle konfessionellen und anderen Unterschiede zu transzendieren schien, die Abwanderung von Kopten rasant verstärkt. Es ist aber nicht nur ein rein christliches Problem: Durch das von SaudiArabien ausgehende salafitische „Mainstreaming“des Islam sind auch alle lokalen Varianten des Islam selbst gefährdet, wie etwa in Ägypten die Sufis (Mystiker) mit ihrer Heiligenverehrung.
Religiöses „Mainstreaming“
Auch andere religiöse Minderheiten sollte man nicht vergessen, die zum kulturellen Reichtum der Region gehören, wie synkretistische Religionen mit christlichen, islamischen und gnostischen Elementen. Eine davon sind die – fälschlicherweise so bezeichneten – „Johanneschristen“(Mandäer oder Sabier) im Irak, die fast verschwunden sind. Und manche Gruppen sind nicht nur durch islamischen Extremismus gefährdet, sondern drohen auch – wie im Irak die Yeziden und die Shabak – zwischen den Nationalismen zermalmt zu werden, wenn sich sich nicht „ethnisch entscheiden“wollen (in diesem Fall zwischen kurdisch und arabisch). Eine winzige jüdische Gemeinde hatte sogar im Saddam-irak überlebt – heute ist sie weg.
Eine christliche Präsenz hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch verstärkt: durch Fremdarbeiter, Hunderttausende davon katholische Filipinos, am Golf. Der Großmufti von Saudi-arabien, Nachkomme von Muhammad Ibn Abdul-wahhab (gest. 1792), des Begründers der wahhabitischen Ideologie, hat unlängst die Zerstörung der Kirchen am Golf gefordert. Es war offenbar für „domestic cosumption“, und es wird auch nicht geschehen – aber wenn Saudi-arabien Teil einer globalisierten Welt sein will, dann sollte es sich so etwas nicht leisten.