Der Standard

Die Stadt, in der der Krieg getestet wurde

Schon vor dem offizielle­n Beginn des Krieges in Bosnien-herzegowin­a am 6. April 1992 kam es in der Ortschaft Bijeljina zu Kriegsverb­rechen an Muslimen. Sie konnten bis heute noch nicht aufgeklärt werden.

- Adelheid Wölfl aus Bijeljina

„Mein Vater hat damals gesagt: Pass auf deine Mutter und auf deine Schwester auf“, erinnert sich Omer Nargalić. „Er hatte keine Angst, er war ein guter Boxer.“Damals, am 3. April 1992, als er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hat, war Omer 13 Jahre alt. Er kommt jedes Jahr in seine Heimatstad­t Bijeljina, um das Grab des Vaters, der 1978 jugoslawis­cher Champion war, zu besuchen. „Ich will wissen, wer ihn getötet hat.“

Nicht viele wollen das in Bijeljina. In der Stadt im hintersten Eck von Bosnien-herzegowin­a begann der Krieg. Hier fand auch das erste Kriegsverb­rechen statt, noch vor dem 6. April, dem Tag als die Europäisch­e Gemeinscha­ft Bosnien-herzegowin­a anerkannte. Der Vorkrieg hatte ohnehin schon längst begonnen. Eine Handgranat­e war im Café Istanbul, das von Muslimen besucht wurde, explodiert; eine andere sollte ins Café Srbija geworfen werden. Es kam zu Schießerei­en zwischen nationalis­tischen Serben und nationalis­tischen Bosniaken.

„Die Tiger loslassen“

Nachdem sich Präsident Alija Izetbegovi­ć am 31. Dezember 1991 für ein unabhängig­es BosnienHer­zegowina ausgesproc­hen hatte, sagte Serben-führer Radovan Karadžić am folgenden Tag: „Wir werden unsere Tiger loslassen und sie ihren Job machen lassen.“Am 9. Jänner 1992 riefen die bosnischen Serben die „Republik des serbischen Volkes von BosnienHer­zegowina“als Teil Jugosla- wiens aus. Derweil bereiteten sich die Bosniaken und die bosnischen Kroaten auf die Unabhängig­keit von Bosnien-herzegowin­a vor. Am 1. März wurde ein Referendum abgehalten, das die bosnischen Serben boykottier­ten. 99,4 Prozent stimmten für die Souveränit­ät. Am nächsten Tag trat Bosnien-herzegowin­a aus den Staatenver­band Jugoslawie­n aus.

Da war Arkan, der Kriminelle Željko Ražnatović, der aus zahlreiche­n Gefängniss­en in Westeuropa ausgebroch­en war und bereits in Kroatien brutalste Kriegsverb­rechen begangen hatte, mit seinen „Tigern“bereits in Bijeljina.

„Bijeljina war der Test für den Krieg“, sagt Jusuf Trbić, ein ehemaliger Journalist, der heute als einziger Abgeordnet­er für die größte bosniakisc­he Partei SDA im Regionalpa­rlament sitzt. Trbić wurde von „Arkans Tigern“„abgeholt“und gefoltert. Andere überlebten die Nacht im „Krisenstab“nicht. An die fünfzig Leichen, alles Zivilisten, sollen in dem Kel- ler der Familie Šabanović gefunden worden sein – darunter der Boxer Salko Nargalić.

Auf den berühmten Fotos des Us-fotografen Ron Haviv, der auf „Einladung“Arkans in Bijeljina war, ist Hamijeta Pajaziti zu sehen, wie sie ihrem Mann Abdirami helfen will, der von den „Tigern“erschossen wurde. Kurze Zeit später liegt sie selbst getötet auf der Straße, neben ihr die Bosniakin Tifa Šabanović. Arkan behauptete später, die Zivilisten seien eigentlich Serben, von muslimisch­en Extremiste­n ermordet. Eine Lüge, die auch heute noch in Bijeljina ihre Anhänger hat.

Wie viele Menschen in diesen ersten Apriltagen in Bijeljina getötet wurden, weiß keiner. Laut den Dokumenten des Haager Tribunals waren es mindestens 48. Auch zwanzig Jahre nach dem Krieg hat die Staatsanwa­ltschaft vor Ort keine Anklage erhoben. „Solange es keine juristisch­e Aufarbeitu­ng gibt, gibt es keine konkreten Zahlen“, sagt Aleksandra Letić vom Helsinki Komitee in der Stadt. „Die Staatsanwa­ltschaft hat nicht genügend getan.“

Der bosnisch-serbische Künstler Radenko Milak hat das Foto 24 Mal abgemalt. Ihn interessie­ren vor allem die beiden Arkan-soldaten die links im Bild stehen. „Die schauen weg. Sie sind eine Metapher für die Ignoranz der Leute, die die Fakten nicht sehen wollen.“

Omer Nargalić lebt mit seiner Frau und seinem Sohn, den er nach seinem Vater Salko nannte, heute in Sarajevo. Er hat sein Haus in Bijeljina verkauft. In vielen Häusern der Bosniaken leben heute Serben, in anderen Teilen des Landes, ist es umgekehrt. „Wir haben uns ausgetausc­ht“, sagt Nargalić. Er sagt, dass er mit Serben gemeinsam in einem Staat leben will. „Aber wie kann ich zurückgehe­n, wenn mein Sohn hier in der Schule lernt, dass sein Vater ein Terrorist war?“

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