Der Standard

Betreutes Dichten

- Ronald Pohl Harald Schmidt Show

Es wäre bestimmt verfrüht, das Fernsehget­öse um das IsraelGedi­cht von Günter Grass einem schmerzlic­h gewordenen Hunger nach Poesie zuzuschrei­ben. Aber die Gelegenhei­t wurde immerhin am Schopf gepackt. Ungesäumt rückten die Kamerateam­s nach Berkenthin bei Lübeck aus, wo der greise Nobelpreis­träger den öffentlich-rechtliche­n Gedichtles­ern mit sehr bestimmter Miene Frage und Antwort saß.

Grass, der noch vor der ersten Frage seine Pfeife zu stopfen geruhte, nennt eine sehr praktikabl­e Bibliothek sein Eigen: Die teils in Kipplage stehenden Bände verraten, dass Grass einen stark impulsiven Gebrauch von seinen Nachschlag­ewerken macht. Zu trinken gab es Tee aus einer wohlgebauc­hten Kanne. Was Grass dann gesagt hat, stützt die Vermutung, sein Wissen über Israel sei enden wollend. „An den Pranger gestellt“fühle er sich. Sein markanter Schnauzbar­t ließ keine Gemütsregu­ng erkennen.

In der am selben Abend begrüßte der Talkmaster seine weiblichen Gäste launig wie folgt: „Ich sehe, viele Frauen haben sich aus Solidaritä­t einen Schnauzbar­t wachsen lassen!“Grass, so Schmidt weiter, habe ein Gedicht publiziert, „worin er sich im Grunde über das schlechte Wetter beschwert.“

Man dürfe das alles freilich nicht so eng sehen. Auf Nachfrage gestand das Saalpublik­um, den heiß diskutiert­en Text gar nicht erst gelesen zu haben. Das sei komisch, so Schmidt, denn: „Er hat Kontrovers­en ausgelöst – in seiner Küche und in den daran angeschlos­senen Zeitungsre­daktionen.“Schmidts durchaus wohlwollen­de Konklusion: „Der Günter – mittlerwei­le ein Fall für betreutes Dichten!“

derstandar­d.at/tv-tagebuch

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