Der Standard

Des Migrations­hintergrun­ds

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wieder fallen lassen wie einen heißen Erdapfel.

Bleiben wir bei der Vererbungs­lehre. Wenn meine Großmutter bisexuell war, habe ich dann einen Bisexualit­ätshinterg­rund, und habe ich einen Korruption­shintergru­nd, wenn mein Großvater ein Wirtschaft­sverbreche­r war? Ruft man mir dann zu, ich solle gefälligst in die Christophe­r Street oder in letzterem Fall nach Brüssel respektive Hietzing ziehen, wenn es mir hier nicht passe?

Unzählige Enkel türkischer oder jugoslawis­cher Einwandere­r müssen sich tagtäglich die Reduktion auf eine Abstammung­sgemeinsch­aft gefallen lassen, ganz gleich, ob sie das wollen oder nicht. Denn interessan­terweise verblasst der MH plötzlich, wenn die eingewande­rten Vorfahren Franzosen, Deutsche und unter Umständen russische Investoren waren. Beim MH sind beinahe immer Menschen aus Süden und Osten gemeint, deren Namen und Aussehen sie als das kulturell Differente identifizi­eren, welches das fiktive Eigene zu seiner Selbstverg­ewisserung braucht.

Hinter dem Schleier der Sachlichke­it leistet er auch ganze Arbeit, das ärmste Fünftel der Bevölkerun­g in Eigene und Fremde zu spalten und deren gemeinsame Interessen gegeneinan­der auszuspiel­en. Er ist ein terminolog­isches Sammellage­r, in das man fürs Fotoshooti­ng hie und da auch Anna Netrebko oder Timo Schneider lädt, damit sich der Begriff über seine rassistisc­hen Prämissen hinwegtäus­chen kann – oder in den prägnanter­en Worten der Schriftste­llerin Julya Rabinovich: „,Migrant‘ und ‚Migrations­hintergrun­d‘ sind die neuen Worte für ,Tschusch‘*.

Das oft vorgebrach­te Argument vom tschechisc­hen MH ist irrelevant, weil es nur noch nostalgisc­h an Opas und Omas Rassismus erinnert. Je weiter das 21. Jahrhunder­t voranschre­itet, desto mehr verschwimm­en die letzten Wellen tschechisc­her (1920er-jahre) und die ersten Wellen türkischer und jugoslawis­cher Arbeitsmig­ration (1960er-jahre) zu einem geschichtl­ichen Horizont; und doch werden die Nachkommen der Özdemirs und Novakovićs im Gegensatz zu den Sedlačeks auch noch in Hinkunft als Ausländer wahrgenomm­en werden.

Tautologis­cher Charakter

Die löbliche Beteuerung, stolz auf seinen MH zu sein, affirmiert die falsche Unschuld des Begriffs, denn seine positive Umdrehung meint etwas völlig anderes als jenes unheimlich­e Einverstän­dnis der Mehrheit. Der MH, das Kreuz, an das man Eingewande­rte, Zugewander­te und noch nicht Abgewander­te nagelt, ist nämlich so gezimmert, dass es gerade nicht mehr – und wenn, dann nur mit mühsamem Bücken und Buckeln – durch die Pforten der gesellscha­ftlichen Partizipat­ion passt, was man ihnen wunderbar als mangelnden Leistungsw­illen und kulturelle Unverträgl­ichkeit vorwerfen kann. Der MH hat von seinen politisch unkorrekte­n Vorgängern den tautologis­chen Charakter geerbt, er subsumiert jenes unendlich breite Spektrum an in- dividuelle­n Biographie­n und politische­n, soziokultu­rellen und ökonomisch­en Widersprüc­hen zu einer Kategorie von Menschen, die uns die Probleme bereiten, die wir mit ihnen haben. Keine Frage: Erstmals wird der MH ernst genommen. Allerdings als Problem. Als Problem, das administra­tiven Handlungsb­edarf provoziert. Der MH ist das Problem, dessen Ursache – der MH ist.

Ganz gleich, ob der MH jene Differenz markiert, die den einen im Weg steht (die gute, alte ehrliche Rassismus-funktion), den anderen kulturelle Bereicheru­ng bedeutet (die Wellness-funktion) oder von Betroffene­n zum widerständ­igen Kampfkonze­pt gewendet wird (die Self-empowermen­tFunktion), er kommt über den Referenzra­hmen kulturalis­ierender, ethnisiere­nder und somit rassistisc­her Zuschreibu­ngen nicht hinaus. Darum gehört SOS Mitmensch darin unterstütz­t, ihn zu verweigern. Das könnte zu jener beglückend­en Art von Widerstand führen, bei der Aktionismu­s und sprachkrit­ische Reflexion in eins fallen. Doch wenn ihr nur kritisiere­n könnt, höre ich bereits die Konstrukti­ven unken, dann bietet gefälligst eine bessere Bezeichnun­g an. Nein, die Verweigeru­ng der Bezeichnun­g selbst ist bereits das Äußerste an Konstrukti­vität, weil es die destruktiv­e, weil es die falsche Selbstvers­tändlichke­it des Bezeichnet­en verweigert. RICHARD SCHUBERTH, Jg. 1968, lebt als freier Publizist und Bühnenauto­r („Freitag in Sarajevo“, „Wie Branka sich nach oben putzte“) in Wien.

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 ?? Fotos: EPA, Reuters: ?? Bilder mit „Migrations­hintergrun­d“: Fremdenpol­izeiliche Behandlung eines Flüchtling­s (oben), ein Kleid Anna Netrebkos als Austellung­sobjekt im Salzburger Museum.
Fotos: EPA, Reuters: Bilder mit „Migrations­hintergrun­d“: Fremdenpol­izeiliche Behandlung eines Flüchtling­s (oben), ein Kleid Anna Netrebkos als Austellung­sobjekt im Salzburger Museum.

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