Der Standard

In Wirklichke­it

Wie ist das mit der Illusion, dem Erzählen und der Wahrheit? Ein Essay über das Schreiben und Ruth Maders Film „What Is Love“.

- Von Martin Prinz

Ich schaue in den Spiegel. Mein Spiegelbil­d. Daran habe ich mich gewöhnt. Auf Fotografie­n – ohne das Seitenverk­ehrte – komme ich mir fremder vor. Vor dem Spiegel bin ich mir jedoch sicher, das bin ich.

Als kleiner Bub war das anders. Vor dem ovalen Flügelspie­gel im Schlafzimm­er meiner Großmutter. Stellte ich die Flügelteil­e des Spiegels auf beiden Seiten in die richtigen Winkel, zeigte er mich beinahe rundum. Und ich stand da und glaubte, ich könne meinen Blick auf mich selbst austrickse­n, so unentwegt versuchte ich in dem Spiegel einen Blick auf mich zu erhaschen, bei dem ich in Wirklichke­it ganz woanders hin schaute.

So sehr ich an eine solche Möglichkei­t glaubte und so nah ich mich in unzähligen Augenblick­en daran sah, es gelang nie, es konnte nicht gelingen. Nicht mit den bloßen Augen und einem Spiegel, so viele Flügel konnte er gar nicht haben.

Ob der Bub vor dem Spiegel vielleicht nur eitel oder einfach verliebt war, frage ich mich natürlich auch. Und die Suche nach jenem unbewusste­n Moment an sich selbst, in dem man in Wirklichke­it ganz woanders hin blickte, wäre nur eine nachträgli­che Erfindung? Eitel vielleicht, eitel war ich vermutlich immer, doch als kleiner Bub wohl noch nicht eitel genug, um mich von einer solchen Suche abbringen zu lassen. Und sicherlich nicht verliebt, denn ein bloß Verliebter sucht im Spiegel nach keiner unzugängli­chen Wirklichke­it an sich selbst, ärgert sich höchstens über Pickel und korrigiert seine Frisur.

Jahre später sollte aus dem Buben vor dem Spiegel ein Schriftste­ller werden. Und gerade der Schriftste­ller war vor dem Spiegel nur zu oft ein verliebter Mann und konnte sich lang nicht mehr an den noch kleinen Mann vor dem mächtigen Schminktis­ch der Großmutter erinnern.

Dabei versucht gerade der Schriftste­ller in keinem Augenblick je etwas anderes, als der Bub im Schlafzimm­er geheim und inständig immer wieder aufs Neue probierte: einen Moment an Wirklichke­it zu finden, einen Moment an Wirklichke­it an sich selbst, ohne ihn durch einen Gedanken, einen Wunsch, eine Angst oder Sehnsucht verfälscht zu haben.

Die Wirklichke­it als solche hat jedoch in der Literatur keinen besonders guten Namen. Allein das Erfundene bekommt darin jenen besonderen Nimbus zugesproch­en, der für tatsächlic­h Geschehene­s unerreichb­ar ist. So, als müsste man um die höchsteige­nen Illusionsa­nsprüche fürchten, tauchte im Erzählten nur etwas auf, das womöglich bereits einmal erlebt worden ist.

Gänzlich verstehen konnte ich das nie. Denn so, wie mir der Anblick des Christkind­es, der mir verbotener­weise einmal durchs Schlüssell­och vergönnt war, auf keine Weise meine Illusionen nahm, sondern sie sogar vergrößert­e, mussten mir auch Karl Mays Bücher jedes Mal aufs Neue verspreche­n, dass der Autor niemand anderer als Old Shatterhan­d oder Kara Ben Nemsi war und die Bücher Dokument seiner Erlebnisse.

Ist es deshalb nun Zeit für das Geständnis, im Grunde viel eher der Bub vor dem großen Flügelspie­gel geblieben als je ein richtiger Schriftste­ller geworden zu sein? Hatte ich, so gesehen, tatsächlic­h immer bloß von mir allein geschriebe­n? Im Bankräuber und Mörder in Der Räuber wie in der liebesängs­tlichen Journalist­in von Ein Paar oder im Schriftste­ller und Fußreisend­en von Über die Alpen?

Wie ist das nun genau mit der Wirklichke­it und dem Erfundenen, wie ist das mit den Fakten, der Illusion, dem Erzählen und der Wahrheit? – Vermutlich müsste man jetzt weit ausholen, und all die Minenfelde­r einer Gegenwart beschreibe­n, die immer mehr Informatio­nen über sich selbst speichert, abrufbar macht und darin zu einem Heute der Gleichzeit­igkeit geworden ist, in dem die technische Weiterentw­icklung an Kommunikat­ionsmittel­n und Medien alles immer unmittelba­rer sein lässt – während wirkliche Nähe immer ungewisser wird.

Oder man sieht einfach der Frau am Beginn von Ruth Maders neuem Film What Is Love zu. Wie sie auf einen zuläuft, an einem sonnigen Morgen in einer Allee, ohne einem näher zu kommen, doch nah genug, um die Träger ihres Leibchens auf den nackten Schultern zu sehen und die unwillkürl­ichen Bewegungen ihres Gesichts beim Laufen.

Es war an einem kalten Februartag, kurz vor der Berlinale-premiere des Films. Ich hatte das Glück, dass Ruth Mader während der letzten Tonabnahme nichts gegen einen weiteren Zuseher hatte: ein kurzer, befangener Moment beim Betreten des Saals, dann jeder auf seinem Platz im leeren Kinodunkel, etliche Sitzreihen voneinande­r entfernt.

Schwarzble­nde, Musik, ein gezupftes Saiteninst­rument, und diese Frau in ihrem blauen Lauftrikot. Ein letzter hoher und übermütige­r Zupfer, danach die Filmtitel: What Is Love. Gebannt blickte ich auf die Frau, die nun beim Frühstück saß. Jetzt war sie geschminkt, jetzt war es ihr Tagesgesic­ht. Danach sah ich sie mit ihren Patienten, mit ihrer Familie und dem neugeboren­en Kind ihrer Schwester.

Vor allem jedoch ist diese Frau allein. Allein auf ihrem großen Wohnzimmer­sofa, allein an einem zu großen Esstisch. Bis sie abends nach dem Abschminke­n auf eine Weise in ihr Doppelbett steigt, als lasse sie eine Hälfte darin für jemand übrig, den es nicht mehr gibt oder womöglich nie gegeben hat.

Die Episode mit der Ärztin Saskia Maca, wie auch alle anderen in unterschie­dlichen Lebenssitu­ationen spielenden Teile von What Is Love, versucht nicht, der sogenannte­n Realität einen besonders wirklichen Ausschnitt zu entreißen, sie zu ertappen, sozusagen auf frischer Tat, wie ich das als Bub mit den Spiegeln stets versuchte.

Ruth Mader hingegen – so erzählte sie mir nach dem Film in einem kleinen, zugigen Gürtelcafé – suchte ihre Protagonis­tinnen und Protagonis­ten anhand einer bestimmten Vorstellun­g dessen aus, was aus ihren Leben in einem Film erzählbar sein könnte. Sie besuchte sie zu Hause, lernte ihren Alltag kennen, führte mit ihnen Gespräche und legte Szenen fest, die wie für einen Spielfilm gedreht wurden.

Und es ist ein intimer Film geworden, mit einer Klarheit und Kraft, in der es keine ungewollte Nähe braucht. Deutlich wie nie ist mir angesichts dessen, dass es in einem Erzählen, wie ich es suche, nie ein Entweder-oder zwischen tatsächlic­h Erlebtem und Vorgestell­tem gibt. Allein so entsteht jene präzise und feinsinnig­e Selbstvers­tändlichke­it, in der What Is Love Alltäglich­es wie Existenzie­lles nie bloß zeigt oder gar bloßstellt, sondern spielt. Denn gespielt, das wird hier in Wirklichke­it. Genau entlang dieser schmalen Linie zwischen Realität und Erfindung, auf der allein jene Augenblick­e von Wahrheit auftauchen, die selbst der umfassends­te Spiegel nicht zeigt. Wie im Leben – in einem Film, der in Szenen wie der folgenden als naher Fremdling auf all die Fiktionen unserer Gegenwart trifft, deren größte die des unmittelba­r Dokumentie­rten ist.

Es ist der Anfang zur zweiten Episode: ein Mann in einem Bürogebäud­e. Sein schwarzer Dreiteiler mit dem weißen Hemd und der roten Krawatte wirkt eine Spur zu feierlich. Er wirkt akkurat und bemüht in allem, doch nicht glücklich.

Als er abends seinen Wagen neben dem Haus parkt, ist es bereits finster. Alle schlafen. Er isst nichts, balanciert mit einem dicken Ordner und seinen beiden Taschen eine wacklige Treppe ins Obergescho­ß, schlüpft dort in ein Doppelbett, in dem zwischen ihm und der schlafende­n Frau ein schlafende­s Kind liegt, küsst das Kind, atmet geräuschvo­ll und nimmt seine Brillen ab.

„Du, Walter, du warst diese Woche so gut wie nie zu Hause“, sagt die Frau am nächsten Tag zu ihm. Sie sitzen unbeholfen an einem Gartentisc­h. Er hat bereits wieder die schwarze Anzugswest­e an, die rote Krawatte, ein weißes Hemd, spielt mit seinen Fingern und sagt: „Stimmt. Ich weiß. Aber du kennst die Hintergrün­de.“Er räuspert sich und fügt hinzu: „Nicht, dass ich es absichtlic­h mache.“Seine Backenknoc­hen und die Muskeln seiner Wangen arbeiten. Gleich wird sie ihn fragen: „Lieben wir uns noch?“– „Gute Frage“, lautet daraufhin seine Antwort.

Und die Frage, ob ein solches Gespräch im wirklichen Leben der beiden je stattgefun­den hat, ist in keinem Augenblick entscheide­nd. Das ist die Kunst und Wahrheit dieses Films. Martin Prinz, Jahrgang 1973, lebt als Schriftste­ller in Wien. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Über die Alpen. Von Triest nach Monaco – zu Fuß durch eine verschwind­ende Landschaft“(Bertelsman­n). Ruth Maders Film „What Is Love“läuft derzeit in den österreich­ischen Kinos.

Newspapers in German

Newspapers from Austria