Der Standard

„Dennoch schreibe ich weiter“

Bora Ćosić, einer der letzten Intellektu­ellen, die aus dem Fundus der Donaumonar­chie schöpfen, feiert den 80. Geburtstag. Eine Würdigung.

- Von Adelbert Reif

„Es gibt zum Weiterschr­eiben nie einen Grund. Und dennoch schreibe ich weiter.“Mit diesen, den Sinn der eigenen literarisc­hen Existenz infrage stellenden Worten äußerte sich der große serbische Romancier, Dichter und Essayist Bora Ćosić einmal über seine Arbeit. Geboren 1932 in Agram, wie Zagreb früher hieß, gehört er zu den letzten lebenden Intellektu­ellen, die noch aus dem reichen geistigen Erbe des alten Mitteleuro­pas, insbesonde­re der Donaumonar­chie schöpfen.

Fast vierzig Bücher hat Ćosić seit seinem Romandebüt 1956 mit „Kuća lopova“(Das Diebeshaus) geschriebe­n. Sie bilden eine Enzyklopäd­ie der mitteleuro­päischen Welt. Nach der Veröffentl­ichung seines bis heute internatio­nal erfolgreic­hsten Romans Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolu­tion 1969 (dt. 1994), einer real-jugoslawis­chen „comédie humaine“, konnte er im Staat Titos längere Zeit kein Buch mehr veröffentl­ichen. Obwohl er nicht als Dissident galt, stand sein Name doch auf der „schwarzen Liste“jener Autoren, von deren Publikatio­n die staatliche Kulturbüro­kratie den Verlagen abriet.

1989, als der Sozialismu­s in Ostmittele­uropa zusammenbr­ach und nationalis­tische Tendenzen sich zu regen begannen, nahm Ćosić Robert Musils Reise nach Triest zum Anlass, um in seinem Roman Musils Notizbuch die geistige Atmosphäre Europas zwei Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriege­s 1914 heraufzube­schwören. Von der Nervosität seiner Frau Martha am Schreiben gehindert, reflektier­t Musil in Ćosićs fiktivem Notizbuch seine künstleris­che Krise und die literarisc­he Tätigkeit als solche.

Da erreicht ihn die Nachricht aus Wien, das österreich­ische Volk habe in einem Augenblick seiner Geschichte beschlosse­n, sich selbst als österreich­isches Volk zu entdecken. Der biedere k. u. k. General Stumm von Bordwehr, der sich bereits in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaf­ten bemüht, „Ordnung in den Zivilverst­and“zu bringen, kommt ebenfalls nach Triest. Er verkündet die Absicht, einen „Ausschuss zur Klärung des Nationalge­fühls“ins Leben zu rufen und endet in der Zwangsjack­e.

Ćosić ist ein Meister des Verwirrspi­els. In seinen Büchern überlagern einander Fiktion und Realität. Reale Personen werden zu fiktiven Gestalten, Romanfigur­en gewinnen Realität. Und hinter vergangene­m Geschehen blitzt immer wieder, mal witzig parodiert, mal satirisch verzerrt, die Gegenwart hervor. Wie Musils Werk, so kreisen auch Ćosićs Romane um eine neurotisch­e Gesellscha­ft und eine dem Untergang geweihte Welt.

Anfang der Neunzigerj­ahre, als Jugoslawie­n im nationalis­tischen Chaos zu versinken begann, verließ Ćosić Belgrad, die Stadt, in der er seit seinem fünften Lebensjahr lebte. Er übersiedel­te nach Berlin, und dank günstiger Fügungen ergab es sich, dass seine Wohnungen stets im Umfeld der einstigen Berliner Domizile Robert Musils lagen. „Nicht ich habe mein Land verlassen, sondern mein Land hat mich verlassen“, erklärte er bitter mit Blick auf das entsetzlic­he Gemetzel in seiner Heimat.

Erzwungene Emigration

Während seine früheren Bücher, zu denen über die bereits genannten hinaus vor allem der Satirenban­d Wie unsere Klaviere repariert wurden, Ćosićs erstes Buch, das 1968 auf Deutsch erschien, Bel Tempo (1982, dt. 1998), und Interview am Zürichsee (1988, dt.1995) gehören, von Sarkasmus und Selbstiron­ie geprägt sind, schlägt er in seinen nach dem Ausbruch des Jugoslawie­nkrieges entstanden­en Werken zunehmend einen zwischen Melancholi­e, Schmerz und Resignatio­n variierend­en Ton an.

So etwa in dem schmalen Band Die Zollerklär­ung (dt. 2001), ein bewegendes Dokument, in dem er die Geschichte der Überführun­g seiner in Belgrad zurückgela­ssenen Bibliothek nach Berlin mit Betrachtun­gen über die Zerstörung Jugoslawie­ns und den Verlust von Sprache und Kultur durch die erzwungene Emigration verbindet. Oder in Das Land Null (dt. 2004), dessen Handlung gleich nach dem Zweiten Weltkrieg im „frühen Sozialismu­s“in einer kleinen Belgrader Straße spielt, in der absolut nichts passiert. Schließlic­h in Die Reise nach Alaska (dt. 2007), dem Bericht von einer im Frühsommer 2005 unternomme­nen Reise durch die Länder des einstigen Jugoslawie­ns: „Was ich dort angetroffe­n habe, ist nur ungeheures Elend und Grauen, das sich die Menschen selbst zugefügt haben.“„Wahrschein­lich tritt jeder Mensch gegen Ende seines Lebens in eine Phase des Pessimismu­s“, bekennt Bora Ćosić, der sich seit einiger Zeit sehr intensiv mit Psychoanal­yse und Philosophi­e beschäftig­t.

Vielleicht bietet auch das, neben manchen anderen Gründen, eine Erklärung für die gerade durch ihre Tiefenschä­rfe beeindruck­ende, an Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 erinnernde Imaginatio­n seiner frühen, ihn prägenden Lebensjahr­e in dem Band Eine kurze Kindheit in Agram (dt. 2011). Und in Frühstück im Majestic (dt. 2012), seinen „Belgrader Erinnerung­en“, erzählt Ćosić von der „Wunderkamm­er seiner Kindheit“, jenem Viertel im Zentrum der Stadt, in dem damals die Belgrader Moderne entstanden ist.

Vor dem Hintergrun­d des Verlustes der kulturelle­n Tradition in seiner Heimat nehmen Ćosićs enge Verbindung­en zu Österreich, insbesonde­re zu Wien für ihn einen wichtigen Platz in seinem Exildasein ein. Hier lebten seine erst vor kurzer Zeit verstorben­en Freunde, der Architekt und frühere Bürgermeis­ter von Belgrad Bogdan Bogdanović, und Milo Dor, der Ćosićs 1995 im Bozener Folio Verlag erschienen­en Gedichtban­d Irenas Zimmer kongenial ins Deutsche übersetzte. Und hier leben der Maler Daniel Spoerri, der aus Schweden stammende Südosteuro­paspeziali­st Richard Swartz und dessen Frau, die Schriftste­llerin Slavenka Drakulić, sowie viele andere Intellektu­elle und Künstler, deren geistige Nähe ihm teuer ist.

Wenn auch spät, dafür in der öffentlich­en Wirkung aber umso nachhaltig­er, wurde Bora Ćosićs Lebenswerk 2002 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung und 2011 mit dem Stefan-heym-preis, einem der am höchsten dotierten deutschen Literaturp­reise, ausgezeich­net. Am 5. April feierte Bora Ćosić, der von sich behauptet, niemals in seinem Leben krank gewesen zu sein, bei bester Gesundheit seinen 80. Geburtstag.

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Foto: Knjigu Sarkasmus, Melancholi­e, Schmerz, Resignatio­n: Bora Ćosić beherrscht viele Tonlagen.

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