Der Standard

Ein Vorspiel zur „Endlösung“

In Nisko am San scheiterte Eichmanns erster Versuch einer „Lösung der Judenfrage“. Auf Kosten der Opfer.

- Von Günter Traxler.

Als posthume Gabe hat der Historiker Jonny Moser (1925–2011), Naziopfer und Pionier der Holocaustf­orschung, eine umfassende Gesamtdars­tellung der ersten Deportatio­n von Juden aus Wien, Mährisch-ostrau und Kattowitz nach Nisko am San hinterlass­en, wo nach dem Überfall auf Polen ab Oktober 1939 ein Judenreser­vat zusammen mit einem Auffanglag­er in Zarzecze entstehen sollte. Verstreute Arbeiten dazu gibt es, aber erst Moser konnte in jahre- langer Arbeit und auch durch Zufälle an Quellenmat­erial gelangen, das eine gründlich belegte Erhellung dieses wenig bekannten Vorspiels zur systematis­chen Ermordung von Millionen Juden erlaubte. Das Manuskript, letztes in einer langen Reihe von Arbeiten, darunter die Autobiogra­fie Wallenberg­s Laufbursch­e, konnte Moser kurz vor seinem Tod fertigstel­len und den engagierte­n Verlegern übergeben.

Mit dem Einmarsch in Österreich im März 1938 setzte der nationalso­zialistisc­he Terror gegen die Juden ein, er verschärft­e sich mit Kriegsausb­ruch im September 1939, und mit ihm stieg die Verzweiflu­ng der verschreck­ten und beraubten Opfer. Auswanderu­ng wurde drastisch erschwert, aber die Juden sollten verschwind­en – eine Situation, in der Nazifunkti­o- näre Pläne entwickelt­en, sie in ihrer Meinung nach kaum besiedelte Gebiete Polens abzuschieb­en. Der ehrgeizige Ss-obersturmf­ührer Adolf Eichmann, mit seiner „Zentralste­lle für jüdische Auswanderu­ng in Wien“einschlägi­g bereits erfolgreic­h, wurde aktiv. Der Vormarsch der Wehrmacht in Polen hatte die Erwartung geweckt, dort eher als in Madagaskar jüdische Ansiedlung realisiere­n zu können.

Gefunden wurde rasch ein kleiner Ort am Fluss San, Nisko, nahe der im deutsch-sowjetisch­en Abkommen gezogenen Grenze. Die Annahmen, die zu dieser Wahl geführt hatten, erwiesen sich rasch als falsch. Weder war das Gebiet, wie angenommen, als Folge der Kriegswirr­en entvölkert, noch war es sicher, sondern von marodieren­den Banden durchzogen. Darüber hinaus war noch nicht klar, welche Veränderun­gen in diesem Gebiet von höchster Stelle aus geplant waren.

Trotzdem mussten die jüdischen Gemeinden von Wien und Mährisch-ostrau je etwa 900 Männer stellen, die am 18. und 20. Oktober 1939 nach Nisko abtranspor­tiert wurden. Für Auswahl, Kosten, Verpflegun­g und Finanzieru­ng der Aktion hatte selbstvers­tändlich die ohnehin schwerst belastete Kultusgeme­inde zu sorgen. Der erste Transport war noch nicht angekommen, als von oben der Befehl kam, die Aktion abzubreche­n. Doch Eichmann ging es darum, „Erfahrunge­n“für Deportatio­nen zu sammeln. Was mit den Deportiert­en geschehen sollte, beschäftig­te ihn nicht mehr, er hatte ihnen die Alternativ­e, „sich zu akklimatis­ieren oder zu krepieren“, bei der Ankunft vor Augen gestellt. Für Nachfolgen­de gab es keinen Platz. Bedrängt von Räubern und Bauern, wurden sie von der SS in die Ungewisshe­it der Wälder vertrieben. Viele flüchteten über die Grenze in die Sowjetunio­n. Wenige überlebten. Das „Judenreser­vat“war gescheiter­t. Adolf Eichmann stand am Anfang seiner Karriere. Jonny Moser, „Nisko. Vorhof zum KZ“. € 22,50 / 206 Seiten, Edition Steinbauer, Wien 2012

www.edition-steinbauer.com

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