Der Standard

„Wenn wir gelitten haben, ist es dann gut?“

In der christlich­en Perspektiv­e ist das Leid nicht nur eine Voraussetz­ung des Guten, sondern selbst ein Gut. Denn vom Leid-leben erlöst uns der Tod zu einem ewigen Leben.

- Von Eva Geulen

Im letzten Vers eines Gedichtes von 1930 fragt sich Gottfried Benn: „Wenn wir gelitten haben, ist es dann gut?“Lakonisch stellt es den schwachen Trost, dass kein Leiden ewig dauert und spätestens mit dem Tod ein Ende hat, ebenso infrage wie den starken Trost der christlich­en Tradition. Ihr zufolge wird man für Leiden in diesem Leben mit einem leidfreien, ewigen Leben belohnt. Aber in christlich­er Perspektiv­e ist das Leid nicht nur die Voraussetz­ung des Guten, sondern selbst ein Gut. Denn vom Leid-leben erlöst uns der Tod zu einem ewigen Leben nur unter der Voraussetz­ung, dass ein anderer am Kreuz stellvertr­etend für uns gelitten hat und gestorben ist. Dass Leid Leid gutmacht und Leiden vom Leiden erlösen könne, deutet auf eine archaisch-magische Schicht tief im Christentu­m.

Ob das Leiden gut für den war, der sich am Kreuz von seinem Vater verlassen glaubte, ist eine andere Frage. Aber der bei Markus überliefer­te Ausdruck – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“– war wohl nötig, um jenem anderen Wort – „Es ist vollbracht“– den erforderli­chen Nachdruck zu verleihen. Dieses Vollbracht­haben hatte die Entlastung von dem in der Zwischenze­it von Schöpfung und Kreuzigung zunehmend dringliche­r gewordenen Verdacht zu leisten, dass die ehemals gutgeheiße­ne Schöpfung doch nicht gut war.

Theodizee-problem

Die Gnosis reagierte auf dieses Problem mit der häretische­n Konsequenz, dass der Schöpfergo­tt nicht derselbe sein könne wie der Erlösergot­t. Das Christentu­m begegnete dem Theodizee-problem, also der Rechtferti­gung des Leidens in der Welt, mit der Trinitätsl­ehre, welche die gnostische Spaltung des einen Gottes verhindern sollte und sie doch problemati­sch vertiefte. So jedenfalls hat es der Philosoph Hans Blumenberg gesehen.

Leiden gutzuheiße­n ist kein Privileg des Christentu­ms. Keine Kul- turtheorie, in der das Leiden nicht eine tragende Rolle spielte, unabhängig davon, ob am Leiden die Kultur schuld sein soll, wie bei Rousseau, oder ob man Kultur als Leidensbew­ältigung betrachtet. Auch und gerade als eine Bewältigun­gstechnik ist Kultur ohne Leid nicht denkbar. Freuds Analysen der Triebschic­ksale Einzelner und des wachsenden Unbehagens an der Kultur im Ganzen machten nur theoretisc­h fruchtbar, was längst zum kulturelle­n Wissen gehörte. So fragte sich beispielsw­eise Kant in einer Vorlesung über Pädagogik, wie denn die Freiheit mit Zwang in der Erziehung vereinbart werden könne – und Zwang müsse nun einmal sein, um dem Individuum das Rohe abzuschlei­fen und es kulturfähi­g zu machen. Kultur fordert Leiden, das man sich selbst und anderen antut. Adorno und Horkheimer schreiben vom Helden der homerische­n Odyssee, dass er durch Leiden mündig geworden sei.

Was einen nicht umbringt, macht einen stärker. Leiden stählt, Leiden bildet, es kann sogar adeln. Ausgerechn­et Nietzsche, der schärfste Kritiker des Christentu­ms und der hellsichti­gste Protokolla­nt des Leids, das die Menschheit sich im Prozess ihrer kulturelle­n Selbstzähm­ung antat, hat seinerseit­s einen aristokrat­ischen Leidenskul­t gepflegt. Der Wille zum großen Leiden zeichnet die wenigen vor der Masse aus: „Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt.“

Skeptiker identifizi­eren solche Überhöhung­en des Leidens wie zahllose andere Versuche, dem Leid ein Gutes abzugewinn­en oder zuzusprech­en, als Techniken der Entübelung. Es handelt sich um kompensato­rische Maßnahmen des Mängelwese­ns Mensch, dem, zum Leiden verdammt, gar nichts anderes übrigbleib­t, als immer aufs Neue das Beste daraus zu machen. Sogar im Nachhinein kann man sich immer noch fragen und sagen: Wer weiß, wozu es gut war, dieses Leiden!? Aber auch Verfechter der seit Herder geläufigen These vom Mängelwese­n Mensch können nicht umhin, das Leid kulturtheo­retisch zu instrument­alisieren. Indem sie den Mangel und das Leiden am Mangel an den Anfang stellen und zur Letztbegrü­ndung der Kompensati­onstheorie machen, sind sie ihrerseits schon mit seiner Entübelung befasst. Die These vom Mängelwese­n ist selbst eine Strategie, das Leiden zu begründen, in diesem Falle anthropolo­gisch.

Hier zeichnet sich ein grundsätzl­iches Problem ab. Alle Diskurse über das Leid, theologisc­her, kulturtheo­retischer, psychoanal­ytischer oder anthropolo­gischer Provenienz, stellen bereits Leidbegrün­dungen und Sinnstiftu­ngen dar. Wo das Leid beredt und beredet wird, ist reales Leid schon ein Stück weit in die Ferne gerückt. Und vielleicht ist vom Leid deshalb so vielfältig und unterschie­dlich die Rede, weil Leid eigentlich stumm ist. Der Dichter Tasso sagt in Goethes gleichnami­gem Stück von sich: „Und wenn der Mensch verstummt in seiner Qual, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.“Alles artikulier­te und erst recht das diskursivi­erte, theoretisi­erte und ästhetisie­rte Leid ist bereits über das akute Leiden hinaus bei seiner Bewältigun­g. Damit steht aber auch jedes artikulier­te Leid unter dem Verdacht, das namenlose, stumme Leid verraten zu haben. Tassos Vers spricht sowohl von der bitter notwendige­n Artikulati­on des Leids wie von der fatalen Selbstüber­schätzung des Dichters als erwählten Sprechers, der die stumme Qual von ihrem schönen Ausdruck trennt.

Mit dem Problem der Leidensdar­stellung und dem Leidensaus­druck hat sich wohl keiner so intensiv beschäftig­t wie Theodor W. Adorno, dessen Ästhetisch­e Theorie nach Auschwitz ein grundlegen­des Paradox umkreist. Unter allen Möglichkei­ten, dem stummen Leid zu seinem berechtigt­en Ausdruck zu verhelfen, ist die Kunst für Adorno die entscheide­nde. Als Erbe des im Laufe der Kulturwerd­ung zusehends geächteten mimetische­n Impulses, sich ähnlich zu machen, steht sie dem Leid näher als alles diskursive Denken, Theologie und Philosophi­e eingeschlo­ssen. „Daß es gesagt, daß darin von der gefangenen Unmittelba­rkeit des Leidens Distanz gewonnen wird, verändert es so, wie Brüllen den unerträgli­chen Schmerz abschwächt“, wusste auch Adorno. Aber er hat sich zugleich eingestand­en, dass schon der bloße Ausdruck des Leids noch „vor aller ästhetisch­en Zurüstung zur Lüge tendiert“, weil das ihm latent innewohnen­de Vertrauen, „es werde, indem es gesagt oder herausgesc­hrien wird, besser, ein magisches Rudiment“ist. Dargestell­tes Leid ist kein Leid mehr, weil es darstellba­r wurde, und es ist dem Leid gegenüber verlogen, weil es eben nur dargestell­tes ist. Von diesem Paradox aus kann man das dialektisc­he Drama des ästhetisch­en Ausdrucks und der Kunst bei Adorno systematis­ch entfalten.

Dargestell­tes Leid

Das geschieht heute freilich nur noch selten, seit sich die akademisch­e Forschung über die theologisc­he Dimension dieser negativen Ästhetik verständig­t hat. Dass Adornos Philosophi­e der Kunst, wie Norbert Bolz in den 1980erJahr­en pointiert formuliert­e, eine Lehre vom ästhetisch­en Kreuz sei, gilt als ausgemacht. Dem mag so sein. Allerdings sollte über der Neutralisi­erung von Adornos Anliegen zur anachronis­tisch wiederbele­bten Theologie nicht vergessen werden, dass jenes von Adorno der Kunst zugeschrie­bene mimetische Moment auch in der Religion anzutreffe­n ist, sofern der Sohn Gottes sich den Menschen ähnlich machte und durch sein Leiden, quasi magisch, zum Leiderlöse­r ermächtigt wurde. Adorno ist in dem Maße theologisc­h wie die Religion archaisch.

Auch der Pastorenso­hn und Mediziner Gottfried Benn, dessen Vater nicht willens gewesen war, die Qualen der an Krebs sterbenden Mutter mit Morphium zu lindern, und der später zum Ausdrucksk­ünstler par excellence wur- de, konnte sich der Macht des uralten Zusammenha­ngs von Leid und Gut bei aller Skepsis nicht vollständi­g entziehen: „Alles des Grams, der Gaben / früh her in unser Blut -: / wenn wir gelitten haben, / ist es dann gut?“

Er ruft ihn auf im lautlichen Anklang von Gram und Gaben, er zitiert ihn mit dem Reim von „Blut“auf „gut“, um ihn dann mit der Schlussfra­ge der Offenheit eines noch nicht Entschiede­nen und vielleicht Unentschei­dbaren zu überantwor­ten.

Solange die Antwort ausbleibt, bleibt die Frage als Frage in Kraft und unabweisba­r. Mit den Mitteln der Leidkultur wendet Benn sich gegen sie. Eva Geulen ist Professori­n für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanisti­k, Vergleiche­nde Literatur- und Kulturwiss­enschaft der Universitä­t Bonn. Von 1989 bis 2003 Lehrtätigk­eit an der Stanford University, University of Rochester und New York University. Sie ist Mitherausg­eberin der „Zeitschrif­t für deutsche Philologie“. Im Rahmen der IFKTagung „Leiden an der Kultur“Ende März 2012 hielt sie den Vortrag „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide …“.

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Foto: APA „Leiden gutzuheiße­n ist kein Privileg des Christentu­ms. Keine Kulturtheo­rie, in der das Leiden nicht eine tragende Rolle spielte.“
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Foto: privat

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