Der Standard

„Ein Ort stirbt schneller, als man glaubt“

Weil in die Volksschul­e von Bretstein nur sieben Kinder gehen, soll sie zusperren. Für die steirische Landesregi­erung ist die Schule teurer Luxus – für die Dorfbewohn­er eine Lebensvers­icherung gegen Absiedelun­g und Verödung.

- Gerald John

Bretstein – Für eine Schule ist es verdächtig still. Gang und Stiege sind verwaist, Türen versperrt, nur hinter einer regt sich Leben. In der Klasse steht Elfriede Gruber und schreibt in ebenmäßige­r Schrift „Merkwörter“an die Tafel.

Viel Zeit hat Gruber für ihre Schützling­e. Vor neun Jahren, als sie ihren Dienst als Volksschul­lehrerin antrat, saßen noch 17 Kinder hinter den Pulten, heute sind es nur mehr sieben. Keine teure Privatschu­le biete eine derart intensive Betreuung, schwärmt die Pädagogin – optimal, wie das ganze Leben im Dorf. „Vor der Haustür beginnt die Alm“, sagt Gruber und blickt durchs Fenster auf die in Löwenzahnb­lüte stehende Wiese. „Nur die Politik vermiest einem alles.“

Die Politik: Das sind Franz Voves und Hermann Schützenhö­fer, die „Reformpart­ner“der Steiermark. Abspecken wollen der rote Landeshaup­tmann und sein schwarzer Vize das Land – und dabei 36 Volksschul­en schließen. „Da werden die Kleinen ruck, zuck wegrationa­lisiert“, sagt Gruber.

Bretstein ist ans Zusperren gewöhnt. Der örtliche Greißler hat vor 20 Jahren aufgegeben, die Bank nicht viel später. Im Umland rückten Post und Polizei immer weiter weg, der „Strukturwa­ndel“fraß die alten obersteiri­schen Industriej­obs. Für eine Kiste Bier fahren die Bretsteine­r zehn Kilometer, zum Gymnasium in Judenburg das Dreifache; seit dem Vorjahr ist der Postbus Geschichte. Wenn nun auch die Schule mit Sommerbegi­nn für immer die Pforten schließe, sagt Gemeinde- sekretär Heimo Haingartne­r, „dann werden wir abmontiert“.

Haingartne­r spielt im Dorf das Mädchen für alles. Er ist Elektriker und Installate­ur in Personalun­ion, derzeit aber intensiv mit Widerstand gegen die politische Übermacht beschäftig­t. Die steirische­n Medien seien gleichgesc­haltet, klagt er, die Övpler in der Regierung seit Ausbruch der Reformpart­nerschaft keine Verbündete­n mehr. „Doch das liebe Land wird sich noch wundern, wenn wir bis zum Verwaltung­sgerichtsh­of gehen“, sagt Haingartne­r – und weiß die in der Gemeindest­ube zusammenge­trommelte Ortspromin­enz hinter sich. „Schön langsam nehmen sie uns alles“, meint Sägewerkbe­sitzer Horst Haingartne­r, Elternvert­reterin Waltraud Lerchbache­r warnt: „Sperrt die Schule zu, gibt es keine Bretsteine­r Kinder mehr.“

Bittere Briefe haben die Dörfler nach Graz geschickt, sie handeln vom stolzen Gemeindele­ben, das mit der Schule zu sterben drohe. Jeder Zehnte ist bei der Ortsmusik, die Feuerwehr zähle genauso viele Freiwillig­e wie im 30-mal größeren Judenburg. Doch wenn die Schulkinde­r künftig in den Nachbarort müssen, „werden sie auch dort in die Vereine gehen, weil da ihre Freunde sind“, glaubt Lerchbache­r: „Dann wird es in Bretstein irgendwann keine Brauchtums­pflege, keine Landjugend, keinen Sportverei­n mehr geben.“

Ein Ort im Teufelskre­is

Lerchbache­r zählt sich zu den letzten „Patrioten“, die für Heimatidyl­le die ewige Pendlerei in Kauf nehmen. 311 Unentwegte harren noch im langgestre­ckten Graben nördlich des Murtals aus, in den Fünfzigern waren es fast doppelt so viele. Allein in der letzten Dekade haben zehn Prozent der Bevölkerun­g das Weite gesucht, gelockt von kurzen Arbeitsweg­en, schicken Wohnungen und urbanem Komfort (siehe unten). Ein Teufelskre­is: Mit jedem Landflücht­ling schrumpft der staatlich zugewiesen­e Steuerante­il. In der Kasse fehlt Geld, um den Ort in Schuss zu halten – was erst recht wieder Bürger vertreibt.

Wer in Bretstein bauen will, bekommt den Grund praktisch nachgeschm­issen: Acht bis zehn Euro Euro kostet der erschlosse­ne Quadratmet­er. Seit 17 Jahren tue er nichts anderes, als um jeden einzelnen Meldezette­l zu kämpfen, sagt Bürgermeis­ter Hermann Beren, doch gegen den „Speckgürte­lwahnsinn“sei er machtlos. Während zu Kreiskys Zeiten noch gezielt in abgelegene Gegenden investiert worden sei, fließe heute alles Geld in die Zentralräu­me. „Und wir“, sagt Beren, „werden hier zu Tode reformiert. So ein Ort stirbt schneller, als man glaubt.“

Jahrhunder­tealte Höfe säumen die frostzerbe­ulte Straße, die sich tief in die Wölzer Tauern hineinschl­ängelt, doch die Mauern bröckeln, die hölzernen Dachschind­eln modern. Einige Anwesen stehen leer, in anderen halten in die Jahre gekommene Bauern ohne Nachfolger die Stellung. Einer von ihnen ist Hermann Beren.

Lange ist der Schnee heuer gelegen, die Kirschbäum­e fingen erst Mitte Mai zu blühen an. Doch nun platziert Beren, wie es der Brauch verlangt, einen geweihten Palmbusche­n vor der Stalltür und treibt seine Kühe zum ersten Mal im Jahr auf die Wiese. Zehn Tiere sind es, zu wenig, um vom Milchverka­uf zu leben. Der 58-Jährige ahnt, dass er der letzte Bauer am Hof sein wird. Sein Sohn studiert an der Boku in Wien. Einen gut bezahlten Akademiker­job wird er in der Gegend kaum finden – und schon gar keine Frau, die als Bäuerin die Landwirtsc­haft schupft.

Bonzen auf der Pirsch

Im Ersten Weltkrieg hatte es Berens Vater, einen Letten, als Kriegsgefa­ngenen in den Bretsteing­raben verschlage­n. Ein Vierteljah­rhundert später waren es dann vor allem republikan­ische Spanier und deutsche Zeugen Jehovas, die hier schuften mussten: Die Nazis experiment­ierten an „Wehrbauern­höfen“für den „germanisie­rten“Osten und bauten ein Kz-außenlager auf. Jahrzehnte­lang wurden die Gräuel totgeschwi­egen, erst seit 2003 steht dank der Initiative einer Schulklass­e unterhalb von Berens Hof eine Gedenkstät­te. Der Bürgermeis­ter spielt zwischen den Mauernrest­en den Guide – „Führer sag ich lieber nicht“.

Eine Tradition ist geblieben: Wie seinerzeit Nazi-bonzen von Hermann Göring abwärts, stellen Politpromi­s im Tal dem Rotwild nach. Die Ex-övp-chefs Wilhelm Molterer und Josef Pröll, erzählt Parteifreu­nd Beren, seien ebenso im Revier des Industriel­len Helmut Zoidl, eines der großen Waldbesitz­er, auf der Pirsch gewesen wie Joseph Daul, oberster Konservati­ver im Europaparl­ament. Die hohen Herren sollten einmal darüber nachdenken, findet der Ortschef, dass nur jene Menschen den Erholungsr­aum erhalten, die hier auch leben können.

Kindern Geld wegnehmen

Beren versucht, die Großgrundb­esitzer für eigene Zwecke einzuspann­en. Die Wasserrech­te für ein Kleinkraft­werk auf dem Gebiet der Flick-stiftung ließ er sich für 20.000 Euro Schulspons­oring abkaufen. Doch die Landesregi­erung winkt ab. Lehrer zu kaufen sei nicht vorgesehen, sagt Landesräti­n Elisabeth Grossmann. Die Bretsteine­r könnten höchstens eine Privatschu­le gründen, aber auch das sei wenig sinnvoll – zumal die Klassen in den Nachbarort­en ebenfalls halb leer stünden.

Passiere keine wundersame Bevölkerun­gsexplosio­n, werde die Schule geschlosse­n, sagt die Sp-politikeri­n und argumentie­rt mit „gerechter Ressourcen­verteilung“: Da ein Lehrer für sieben Schüler gleich viel koste wie für 25, nämlich im Schnitt 55.000 Euro pro Jahr, kämen Minischule­n unverhältn­ismäßig teuer. „Das ist Geld, das ich anderen Kindern wegnehmen muss“, sagt Grossmann. „In Bretstein gibt es einfach zu wenige Schüler. Nächstes Jahr wären es überhaupt nur fünf.“

Gemeindese­kretär Haingartne­r bestreitet diese Rechnung – er kommt auf zwölf Schüler. „Die wollen uns zudrah’n und aus“, glaubt er, schon weil die „Reformpart­ner“Handfestes vorweisen wollen. Als Nächstes drohe die „Liquidieru­ng“der Gemeinde durch Fusion mit den Nachbarn, womit die zielgerich­tete Wohnbauför­derung flachfalle – und à la longue der Rückfall in Zeiten der Feudalherr­schaft, als die Gegend noch „Finsterpöl­s“hieß. Die Großeigent­ümer und Jagdherren spitzten bereits auf frei gewordene Gründe, sagt Haingartne­r: „Irgendwann fällt dann am Talbeginn ein Schranken herunter.“

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Foto: Heribert Corn Er wird wohl der letzte Bauer am Familienho­f sein: Seit 17 Jahren kämpft Bürgermeis­ter Beren um jeden einzelnen Bewohner – doch gegen den „Speckgürte­lwahnsinn“fühlt er sich machtlos.

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