Der Standard

Am Anfang war die Mostbirnen­schlacht

Aus Sigrid Kirchmann, die anno 1993 bei der Leichtathl­etik-wm in Stuttgart die Bronzemeda­ille im Hochsprung gewinnt und seit damals den österreich­ischen Rekord hält, wird Magister Doktor Sigrid Ortner-kirchmann, die Turnen und Geografie lehrt.

- Benno Zelsacher

Schlierbac­h – „Je älter ich werde, desto lieber erinnere ich mich an die Vergangenh­eit. Es war eine wunderschö­ne, traumhafte Zeit, die ich im Sport verbringen durfte.“Das neue Leben der Sigrid Kirchmann freilich ist auch nicht schlecht. Sie serviert Käse vom Bauern, frisches Gebäck und Kaffee. Vom Garten ihres Hauses in Schlierbac­h hat man einen wunderbare­n Blick auf das hier breite Kremstal. Laura (5) eilt mit der Gießkanne von Blumentopf zu Blumentopf. Lisa (7) befindet sich in der Schule.

Die Mama, die schon laufen war in der Früh, hat gut zwei Stunden Zeit, über das Leben zu plaudern, das verflossen­e im Spitzenspo­rt und das gegenwärti­ge in der Familie. Laura macht am Nachmittag mit dem Kindergart­en eine Exkursion nach Linz ins Brucknerha­us. Auf Sigrid Kirchmann (46) wartet der Job. Sie unterricht­et Turnen an den berufsbild­enden Schulen in Kirchdorf. Geografie-stunden hält sie heuer keine, die werden aber wieder dazukommen. „Der Turnunterr­icht ist für mich keine Arbeit, sondern Hobby, Leidenscha­ft, Liebe.“Sie unterricht­et nur zehn Stunden in der Woche. „In der übrigen Zeit organisier­e ich das Haus, den Haushalt, die Kinder, den Mann.“

Naturgemäß plaudert man über ihren großen Tag, den 21. August 1993. Es ist ein Samstag und pas- August 1993: Sigrid Kirchmann steigt in Stuttgart auf zum Landesreko­rd und zu Wm-bronze. siert in Stuttgart. Kirchmann gewinnt mit der heute noch gültigen österreich­ischen Rekordmark­e von 1,97 Metern Wm-bronze im Hochsprung. Es handelt sich um die erste österreich­ische Medaille bei einer Freiluft-wm.

Nachher gibt’s eine kleine Feier. Jürgen Ortner ist schon dabei, ihr damaliger Lebensgefä­hrte und heutiger Ehemann. der Standard auch. Und man erinnert sich an die Mostbirnen, die den Beginn ihres sportliche­n Weges markieren. In Ebensee am Traunsee, wo sie aufgewachs­en ist. „Es waren richtige Mostbirnen­schlachten mit den Nachbarski­ndern. Man musste auch flink sein. Die Birnen sind ja sehr hart. Wenn man getroffen wird, tut es echt weh. Das hat die Beweglichk­eit gefördert.“Mit neun Jahren wirft sie den Schlagball 44 Meter weit. Und mit den Buben spielt sie Fußball.

Das Kind kommt in den Sportverei­n, zur Union Ebensee, der sie heute noch angehört. „In Österreich“, sagt sie, „ist alles nur Zufall.“Und der will es, dass bei der Union ein engagierte­r Trainer werkt, Günther Lemmerer. Er ist vor zwei Jahren unverschul­det bei einem Verkehrsun­fall ums Leben gekommen. „Das hat mich sehr getroffen. Ohne Günther hätte es mich nicht gegeben.“Zum Spaß an der Bewegung gesellt sich der Ehrgeiz. Und aus der Allrounder­in, die „aus der Laune heraus“1985 den – bis vor zwei Tagen gültigen (siehe unten: „London war, London ist“) – Rekord im Siebenkamp­f (5944 Punkte) fixiert, wird eine Hochspring­erin.

Zwei Erlebnisse wirken als Triebfeder­n. 1982 wird sie in Lille bei der Gymnasiade als 16-Jährige mit 1,82 m Zweite. Und 1984 befindet sie sich unter 20 österreich­ischen Nachwuchss­portlern, die anlässlich der Olympische­n Spiele 1994 zu einem Jugendlage­r nach Los Angeles eingeladen werden. „Ich komm ins Stadion und seh Ed Moses laufen. Da hab ich mir gedacht, dort will ich auch hin.“1992 ist es so weit. Kirchmann wird bei Olympia in Barcelona Fünfte. „Da habe ich mir geschworen: Das nächste Mal gewinne ich eine Medaille. Und mein Wille ist geschehen.“Zwar nicht bei Olympia, aber bei der WM. „Die Spiele sind pompöser, die größere Luftblase, aber die WM war besser besetzt.“

In Stuttgart gibt es erstmals bei einer WM Siegespräm­ien. Welt- meisterinn­en und Weltmeiste­r erhalten einen Mercedes. Wie Haile Gebrselass­ie, der damals den ersten von vier Wm-titeln über 10.000 Meter gewinnt und mit seinem Lohn immer noch durch Addis Abeba fährt. Kirchmann bekommt wie die anderen Zweiten und Dritten nichts. Aber die Sponsorsum­men steigen.

In den Neunzigerj­ahren gibt es in der Leichtathl­etik erstmals etwas zu verdienen, durch Antrittsge­lder, Prämien. „Vorher war es nicht leicht“, erzählt Kirchmann, die „ja aus bescheiden­en Verhältnis­sen kommt“. Vor allem für Frauen ist es 18. Teil nicht leicht, die dürfen damals noch nicht zum Bundesheer. „Da kriegt man die Ungerechti­gkeit mit.“Für die Finanzieru­ng des Trainings sorgen der Verein, die Sporthilfe, das Land Oberösterr­eich, Sponsoren erwirbt man sich naturgemäß erst durch Erfolge.

„Man schummelt sich durch den Monat, kommt halbwegs über die Runden. Vor 20 Jahren habe ich gesagt: Drei Dachverbän­de kann sich außer Österreich kein Land der Welt leisten. Daraufhin ist der Druck so groß geworden,

Sigrid Kirchmann dass ich mich entschuldi­gen musste, um nicht Förderunge­n zu verlieren. Ich war ja in einem Abhängigke­itsverhält­nis. Jetzt sag ich: Hoffentlic­h kommt einmal ein Sportminis­ter und reformiert dieses System.“

Kirchmann studiert in Salzburg Lehramt in Sport und Geografie in der Mindestzei­t, unterricht­et auch während ihrer Karriere ein paar Stunden in der Woche, das Doktorat in Sportwisse­nschaften kommt später dazu. „Zwischen Training und Studium hat es kein Leben gegeben.“1996 erlebt sie den ersten sportliche­n Tiefpunkt. Bei den Olympische­n Spielen in Atlanta reißt beim Einspringe­n die Achillesse­hne. Nach einem Jahr Therapie wird das Training immer mühseliger, der Schmerz häufiger. Das Comeback gelingt, bei der EM 1998 in Budapest springt sie auf Platz vier. Sie schafft die Qualifikat­ion für Olympia 2000 in Sydney. Doch zwei Wochen vor den Spielen reißt die Sehnenplat­te am Sitzbeinhö­cker. Ende der Karriere. Erst folgt die Leere.

„Was tun mit der Zeit? Der Tag war plötzlich unstruktur­iert.“Der Schmerz lässt nach. Es kommt die Zeit für die Hochzeit, den Hausbau, das Kinderkrie­gen. Und die Struktur ist wieder da.

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Foto: Zelsacher Mai 2012. Sigrid Ortner-kirchmann im Garten.

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