Der harte Kampf gegen den schleichenden Tod
Mangelernährung zählt in Indien zu den Hauptursachen von Kindersterblichkeit. Wer sie in den Griff bekommen will, muss gegen lokale Behörden, alte Praktiken, fehlendes Wissen und Korruption ankämpfen.
Lalitpur ist eine Stadt, wie es sie in Indien hundertfach gibt. Der Ort im Westen des ärmlichen Bundesstaates Uttar Pradesh zählt über 100.000 Einwohner. Die staubige Hauptstraße säumen kleine Läden und Gemüsestände. Kühe liegen träge am Seitenstreifen, Mopeds und Autos hupen sich lärmend ihren Weg durch den Verkehr. Im Hinterhof eines unscheinbaren Hauses sitzt Jimreeves Samuel in seinem Büro und berichtet von einem weltweiten Kampf, der hier von einem abstrakten Ziel zu einer täglichen Aufgabe geworden ist: der Kindersterblichkeit ein Ende zu setzen.
Im Jahr 2000 haben die Staatsund Regierungschefs der ganzen Welt dieses Ziel als eines der acht Un-millenniumsziele festgelegt (siehe Wissen). Samuel, der das lokale Büro der Hilfsorganisation World Vision leitet, benennt für die hohe Kindersterblichkeit vor allem einen Grund: Mangelernährung.
Das muss in der ärmlichen Gegend nicht unbedingt Hunger bedeuten, sondern einseitige Kost und zu wenig Nährstoffe. Die Regierung hat Armut und Unterernährung zwar offiziell den Kampf angesagt. In der Praxis geschehe aber noch viel zu wenig. Samuel: „Die meiste Arbeit der Regierung findet auf dem Papier statt – und Korruption ist weit verbreitet.“
Um den lokalen Behörden mehr Druck zu machen, will Samuel vor allem für ein realistisches Bild sorgen. Seine wichtigste Waffe liegt vor ihm auf dem Schreibtisch: ein weißes Buch mit vielen Tabellen. Im Frühjahr haben er und seine Mitarbeiter angefangen, die Kinder in den umliegenden Dörfern regelmäßig zu wiegen und die Daten in dem Register festzuhalten. So will er den Beamten beweisen, dass mehr Kinder von Mangelernährung betroffen sind als offiziell angegeben. Die Zahlen seien viel zu niedrig angesetzt, ist Samuel überzeugt.
Erste eigene Daten kann er zur Illustration schon präsentieren: Von 2757 registrierten Kindern seien nur 1327 ausreichend ernährt gewesen – weniger als die Hälfte. 612 galten dagegen als akut unterernährt. Das sei nur der Anfang, sagt Samuel. „Hier sind mindestens 57 Prozent der Kinder unter fünf Jahren davon betroffen, deutlich mehr als im Landesdurchschnitt“, schätzt er.
Ein Besuch beim leitenden Gesundheitsbeamten des Distrikts zeigt zwar, dass die Behörden das Problem nicht komplett negieren: Narendra Singh spricht immerhin von 48 Prozent der Kleinkinder, die sich – entsprechend einer Farbskala – nicht im grünen Bereich befänden. Doch weder er noch sein Mitarbeiter, der mit am Tisch sitzt, können die Frage beantworten, wie sich die Lage über die Jahre entwickelt hat. Vergleichbare Daten – Fehlanzeige.
Das Anganwadi-system
Dabei hat die indische Regierung eigentlich ein System entwickelt, das auch in den entlegensten Dörfern so etwas wie eine gesundheitliche Basisversorgung für Kinder sicherstellen soll. Lokale Gesundheitsbeauftragte, Anganwadis genannt, sind als Ansprechpartner für eines oder mehrere Dörfer zuständig. Im ganzen Distrikt Lalitpur sind es laut Behörden rund 1100. Nach ein paar Monaten Ausbildung begleiten sie Frauen durch die Schwangerschaft, untersuchen die Kinder, sorgen für Impfungen und geben Tipps für Hygiene und Ernährung.
Doch auch hier sehe die Praxis anders aus als das Konzept auf dem Papier, schildert Jimreeves Samuel: Viele Anganwadis sind schlecht ausgebildet oder zu wenig engagiert. Es sei auch schon vorgekommen, dass sie zusätzlich gelieferte Nahrungsmittel für die Kinder auf lokalen Märkten verkauft hätten. Samuel sieht seine Aufgabe deshalb auch darin, die Anganwadis weiter zu schulen.
Weil Armut zu den Hauptursachen der Mangelernährung gehört, bemüht sich der Mitarbeiter der Hilfsorganisation auch, den Menschen eine bessere Lebensgrundlage zu verschaffen. Er hält sie dazu an, bisher unfruchtbares Land von Steinen und Geröll zu befreien, sodass die Familien auf den kleinen Feldern Getreide anpflanzen können. Mit Prinzipien der organischen Landwirtschaft sollen sie unabhängig von chemischen Düngern werden.
Das Dorf Simardha ist eine kleine Siedlung außerhalb von Lalitpur, zu der eine staubige Straße mit vielen Schlaglöchern führt. In der Schule, die aus einem Klassenraum mit gelb bemalten Wänden besteht, sitzt eine Gruppe Mädchen auf dem Boden. Stolz erzählen sie, dass sie nicht nur in Mathematik und Sanskrit unterrichtet werden. Zu den Fächern zählt auch Haushaltslehre, wo sie auch über Ernährung und Kindergesundheit lernen.
Eine winzige alte Frau in einem violetten Sari ist seit über 20 Jahren die Anganwadi-angestellte. Sie hat mit ihrem Assistenten für Jimreeves Samuel die Kleinkinder des Ortes gewogen. Trotz ihrer langen Erfahrung ist sie nicht in der Lage gewesen, Mangelernährung immer zu erkennen. Die Daten des ersten Monats haben ergeben, dass von den 200 Kindern des Dorfes 85 mangelhaft ernährt sind, 34 davon im kritischen Zustand. „Ich habe mich sehr schlecht gefühlt“, gesteht die Frau ein. Die lokalen Behörden versorgen die Dörfer zwar mit Zusatznahrung, die ist aber oft nicht ausreichend.
Die Väter und Mütter der besonders betroffenen Buben und Mädchen hat die Anganwadi gedrängt, ihre Kinder in das nächste Ernährungszentrum zu bringen, das von der Regierung betrieben wird. Sie habe ihnen sogar angeboten, die Kosten dafür zu teilen. „Aber sie sind bis jetzt nicht gefahren.“Denn auch die Eltern wollen oft nicht sehen, dass ihrem Kind etwas fehlt.
Alte Traditionen
Mit solchen Problemen haben auch die Bewohner von Korasa gekämpft, einem Dorf 70 Kilometer südlich von Lalitpur im angrenzenden Bundesstaat Madhya Pradesh. „Das Bewusstsein über Mangelernährung ist sehr gering gewesen – und traditionelle Praktiken haben das Problem noch verstärkt“, sagt Nixon Jayakumar, der dortige Leiter des regionalen Programms von World Vision.
So sei es üblich gewesen, Kinder nach der Geburt nur zwei Tage zu stillen und die Milch dann mit Wasser zu strecken. Schwangeren sei oft weniger zu essen gegeben worden, nicht mehr. World Vision hat in Korasa deshalb Trainingskurse organisiert, in denen die Eltern etwas über die Grundlagen von Kindergesundheit erfahren haben.
Um Mangelernährung langfristig auszuschließen, gibt es in Korasa deshalb regelmäßige Essen für Mütter und Kinder. Jede Familie bringt eine Handvoll Getreide mit, das gemeinsam zubereitet wird. So lernen die Frauen gleichzeitig, nahrhaftes Essen für ihre Kinder zu kochen.
Die Mutter des dreijährigen Nikhel berichtet, sie habe früher nichts über richtige Ernährung oder hygienische Notwendigkeiten gewusst. Als bei Nikhel eine starke Unterernährung festgestellt wurde, brachte ihn ein Mitarbeiter von World Vision zwei Wochen in ein nahegelegenes Ernährungszentrum. Dort hat er wieder zugenommen. „Jetzt“, sagt seine Mutter Radharani Parsadi erleichtert, „ist er außer Gefahr.“