Will das Volk, dass geschieht, was es will?
Erwiderung auf Hans Rauschers Bedenken gegen eine Ausweitung der plebiszitären Demokratie – und eine Anregung: Warum nicht allfällige Zweifel an deren Wähler-akzeptanz per Volksbefragung erkunden?
Die österreichische Politik ist, so Rauscher , einfallslos, entscheidungsschwach und ratlos. Aber warum? Sind denn die österreichischen Politikerinnen und Politiker alles Schwachköpfe, Schulabbrecher, Faulpelze? Oder liegt es nicht vielleicht doch an den Rahmenbedingungen unserer Demokratie: am mehrheitsfeindlichen Wahlsystem etwa, das den Parteien wenig andere Optionen lässt, als einander zu blockieren? Dem persönlichkeitsfeindlichen Parteienproporz, der dazu führt, dass im Parlament überwiegend nicht Köpfe, sondern Prozente sitzen?
Die Gründungsväter der Republik, die 1919 das Proporzwahlrecht einführten, waren schon im Reichsrat der Monarchie Abgeordnete gewesen. Für den hatte ein kompliziertes Persönlichkeitswahlrecht gegolten, und die Erfahrungen mit diesem Reichsrat waren nicht die besten. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Massenparteien fühlten sich unterrepräsentiert und eigenwillige Volksvertreter der verschiedenen Nationalitäten und mit partikulären Interessen machten das Parlament oft handlungsunfähig, sodass mit Notverordnungen regiert werden musste. Vom neuen Listenwahlrecht erhoffte man sich eine gerechtere Mandatsverteilung und diszipliniertere Fraktionen.
Demokratiepolitisch war das damals vertretbar, weil die Österreicher in konsolidierte Lager geteilt waren: die marxistischen Sozialdemokraten, die katholischen Bürgerlichen und Bauern und die Deutschnationalen. Die Parteizugehörigkeit war gleichsam angeboren – dass jemand einmal die eine und das nächste Mal eine andere Partei wählen könnte – undenkbar.
Mit dieser politischen Massenidentifikation ist es seit langem vorbei. Klassentreue Stammwähler wurden zu kritischen Wechselwählern. ÖVP, SPÖ und FPÖ (am wenigsten noch die Grünen) werden wie Markenartikel beworben, hinter denen Parteien stehen, die sich eher durch Images profilieren als durch Programme. Diese würden ohnehin nicht ernst genommen, weil sie mangels ausreichender Mehrheiten keine Chance auf Verwirklichung haben. Sie sind auch verfassungsrechtlich unverbindlich. Weder Abgeordnete noch Parteien können von ihren Wählern für nicht eingehaltene Versprechen zur Verantwortung gezogen werden. Rauscher, der Volk und völkisch nicht auseinanderhalten will, mag dessen Einflusslosigkeit begrü- ßen. Die Wähler aber muss das auf die Dauer frustrieren.
Echte Volksabstimmungen zu ermöglichen, mit denen nach einem erfolgreichen Volksbegehren über Gesetzesvorlagen entschieden wird, könnten ein Quantensprung für unsere von handlungsunfähigen Koalitionen paralysierte Demokratie sein. Rauschers Angst vor einem Populismus à la Minarettverbot kommt allerdings nicht von ungefähr. Das ist ja in der Schweiz wirklich passiert. Unter Umständen allerdings, die vermeidbar wären:
Obwohl in der Schweiz Volksinitiativen auf Bundesebene immer Verfassungsrang haben und über das Minarettverbot daher als Verfassungsgesetz abgestimmt werden musste, konnte es mit einer Mehrheit von 57 Prozent bei einer Beteiligung von 54 Prozent, also insgesamt mit einer Zustimmung von nur 30 Prozent aller Schweizer Stimmbürger durchgehen. Denn in der Schweiz genügt dafür trotz Verfassungsrang die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen, und es ist egal, wie wenig Bürger zu den Urnen gehen. In Österreich dürfen Verfassungsgesetze nur bei qualifizierter Anwesenheit (mindestens die Hälfte) und mit qualifizierter Mehrheit (mindestens zwei Drittel) der Abgeordneten beschlossen werden. Selbstverständlich müssten daher auch bei Volksabstimmungen entsprechende Hürden eingebaut werden – falls man nicht überhaupt Verfassungsänderungen ohne Mitwirkung des Nationalrats ausschließt. Ob ein Volksbegehren in die Verfassung eingreift, wäre noch vor seiner Zulassung amtlich zu prüfen. Bei einem Minarettverbot, wie Rauscher es auch für Österreich prophezeit, ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall, da es die Religionsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz berührt. Auch eine untergriffige Werbung wie die gegen Muslime anlässlich der Volksabstimmung in der Schweiz müsste und könnte verhindert werden.
Als ersten demokratischen Schritt aber hin zu einer direkteren Demokratie in Österreich sollte der Staat das Volk befragen, ob es so etwas überhaupt will. Selbstverständlich ist das, siehe Rauscher, nämlich nicht. PETER WARTA, Jg. 1939, ist Jurist und Publizist in Wien.