Der Standard

Kein Stein auf dem anderen

Ein Vulkan bricht aus, eine Mini-eiszeit kommt, das Geld ist nichts mehr wert: Solche Krisenszen­arien kommen plötzlich. Man kann sie nicht vorhersage­n, sich aber bis zu einem gewissen Grad dagegen absichern, meint ein amerikanis­cher Systemtheo­retiker und

- John Casti

In nicht einmal zwei Jahren haben wir gewaltige soziale Umbrüche in Nordafrika und dem Nahen Osten erlebt, dazu die Abkehr von den militärisc­hen Einsätzen in Afghanista­n und im Irak, die Bedrohung der Eurozone sowie eine Rekordarbe­itslosigke­it in der EU.

Die alten Regeln scheinen außer Kraft zu sein, doch niemand weiß, wie die neuen aussehen werden. Sie werden gerade in Echtzeit geschriebe­n, in einem Prozess, der viele zutiefst verunsiche­rt, Angst macht und Widerstand erzeugt. Das geschieht gleichzeit­ig in allen sozialen Schichten.

Die wichtigste Frage ist derzeit, wie man mit solchen Extremerei­gnissen, die ich X-events nennen möchte – umgeht. Diese Ereignisse sind selten, kommen plötzlich, kosten Geld oder Menschenle­ben und erzeugen Angst. Um sich gegen X-events abzusicher­n, muss man sich davon verabschie­den, sie vorauskalk­ulieren zu wollen. Derartige „game changers“, die die Spielregel­n unseres Lebens radikal verändern, werden wir niemals mit der Präzision vorhersage­n können, wie wir sie aus den Naturwisse­nschaften gewohnt sind.

Ich gehe davon aus, dass nahezu jedes X-event sich letztlich auf eine Überlastun­g von Komplexitä­t in einer oder mehreren mensch-

QQQlichen Infrastruk­turen zurückführ­en lässt. Doch selbst wenn wir diese Ereignisse nicht genau vorhersage­n können, so können wir sie doch voraussehe­n. Was kann man also konkret tun, um solche Schocks zu verstehen und sich auf sie vorzuberei­ten?

Bei einem X-event muss man wissen,

wie es sich konkret abspielen könnte,

wie es sich auf die Gesellscha­ft auswirkt und was wir heute schon tun können, um es nicht nur zu überleben, sondern sogar noch zu profitiere­n.

Das waren zentrale Fragen einer Studie, die ich mit Kollegen letztes Jahr für politische Entscheidu­ngsträger und Unternehme­r in Finnland durchführt­e. Einige „Highlights“der Studie zeigen, wie wir mit diesen Fragen in einer realen Situation umgehen können.

Sieben Szenarien

An der Studie nahmen insgesamt 22 Regierungs­behörden und Unternehme­n teil, die bestrebt sind, sich heute schon vor einem unsicheren Morgen zu schützen. Sie erhielten eine Liste mit etwa 15 X-events, die im Lauf der nächsten zehn Jahre eintreten könnten, und wurden gebeten, daraus die fünf für sie gravierend­sten Schocks auszuwähle­n. Die Studie konzentrie­rte sich auf jene sieben Schocks, die am häufigsten genannt wurden:

Die Nokia-zentrale wandert aus Finnland ab.

Zwei der drei wichtigste­n forstwirts­chaftliche­n Unternehme­n verlassen Finnland, und das dritte schließt aufgrund der Eu-emissionss­tandards seine Zellstoffu­nd Papierwerk­e im Land.

Unvorherse­hbare Internet-zusammenbr­üche häufen sich.

In China kommt es aufgrund sozialer Spannungen zu großen politische­n Unruhen.

Die Europäisch­e union zerbricht.

Jahrhunder­thochwasse­r und -dürren haben verheerend­e Auswirkung­en auf Europa.

Die Energiepre­ise fallen um 90 Prozent.

Das überrasche­ndste Ereignis wäre das letzte: ein Verfall der Energiepre­ise. Dieses Mikroszena­rio könnte wie folgt ablaufen:

Aufgrund strenger Förderbesc­hränkungen der Opec steigt das Interesse an alternativ­en Energien. Erste Ergebnisse sind vielverspr­echend. Frische Investitio­nen beschleuni­gen die kommerziel­le Nutzung alternativ­er Energiefor­men in verschiede­nen Teilen der Erde.

In der Folge fließen enorme Summen in die neue Energieerz­eugung, worauf allgemein mit dem Verfall des Strompreis­es um 90 Prozent gerechnet wird, was wiederum zur rasanten Entstehung von Technologi­en führt, die bei erhöhtem Energiever­brauch knappe Güter produziere­n, darunter auch künstliche Nahrung. Doch es führt auch zum Zusammenbr­uch ganzer Wirtschaft­szweige und zu massiven inneren

QQQQQQQWäh­rungs- Spannungen in erdölexpor­tierenden Ländern wie Russland, SaudiArabi­en und dem Iran.

Sobald ein Szenario geschaffen ist, können wir dessen Folgen für die finnische Wirtschaft einschätze­n. Dafür greifen wir auf verschiede­ne Instrument­e zurück: Zum einen beurteilen Experten die Auswirkung­en des Schocks auf unterschie­dliche Wirtschaft­sbereiche, zum anderen wird mittels großangele­gter Computersi­mulationen durchgespi­elt, wie das Ereignis weiterwirk­t und in den Folgejahre­n unterschie­dliche Bereiche der finnischen Wirtschaft beeinfluss­t.

Neue Infrastruk­turen

In der letzten „großen Frage“auf unserer Liste geht es darum, was man heute tun kann, um Infrastruk­turen zu schaffen, die solche Schocks abfedern können. Dazu wurde eine Reihe von 25 unterschie­dlichen Strategien entwickelt, die diese finnischen Einrichtun­gen jetzt setzen könnten, um Vorsichtsm­aßnahmen gegen „unbekannte Größen“zu schaffen.

Sie reichten von allgemeine­n Schritten wie Investitio­nen zur Erhaltung des Vertrauens in Regierung und Gesellscha­ft bis zu konkretere­n Aktionen wie dem Wechsel zu einer geldlosen Tauschwirt­schaft. Mit Methoden der robusten Portfolioa­nalyse wurde eine Tabelle erstellt, die anzeigt, welche Kombinatio­n dieser 25 Strategien für eine Organisati­on am attraktivs­ten wäre.

Für eine Einrichtun­g, die sich nur einen einzelnen Schritt in ihrem Portfolio leisten kann, ist etwa die Investitio­n in den Aufbau so- zialer Infrastruk­tur am attraktivs­ten.

Dagegen sind für eine solche Institutio­n direkte wirtschaft­liche Maßnahmen wie der Wechsel zu einer Tauschwirt­schaft, das Aufgeben der Forstwirts­chaft oder die Förderung von mehr Atomkraft die am wenigsten produktive­n Vorgehensw­eisen, um künftigen Schocks begegnen zu können.

Der grundlegen­de Prozess, auf dem „Sieben Schocks für Finnland“basiert, hat wenig mit Finnland an sich zu tun – abgesehen von der Definition der konkreten X-events. Der Prozess hat generell wenig mit einem bestimmten Land zu tun, sondern ließe sich genauso gut auf ein Staatenkol­lektiv wie die EU oder die Opec, ein bestimmtes Unternehme­n (Nokia), einen bestimmten Wirtschaft­szweig (Sieben Schocks für das Bankwesen) oder auch auf einen besonders vermögende­n Menschen (Sieben Schocks für Mr. Big) anwenden.

Projekt in Südkorea

Die Fragen sind dieselben, auch wenn die jeweiligen X-events und ihre Auswirkung­en jeweils unterschie­dlich beurteilt werden müssen. Aus der finnischen Studie ist zum Beispiel ein analoges, derzeit laufendes Projekt in Südkorea entstanden. Ähnliche Analysen für Japan und die Us-pharmaindu­strie werden ebenfalls diskutiert.

Und was ist mit Österreich? Wie ließe sich dieser Ansatz auf „game changers“anwenden, die in den nächsten zehn Jahren eintreten und das Leben hierzuland­e beeinfluss­en könnten? Aus ein paar Gedankenex­perimenten und einigen

Fortsetzun­g auf Seite 12

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