Mythen, Lynchjustiz und Gruppendynamik
Die Gerüchte von grausamen Rachemorden der Bevölkerung an Us-fliegern im Zweiten Weltkrieg konnten sich bis heute halten. Täter waren jedoch meist Ns-schergen, wie Grazer Historiker nun aufgedeckt haben.
Als am 4. März 1945 der amerikanische B-24-„liberator“-bomber über Graz abgeschossen wurde, konnten sich sechs der zehn Besatzungsmitglieder mithilfe ihrer Fallschirme retten. Vier von ihnen seien nach ihrer Landung sofort von einer Menschenmenge umstellt und gelyncht worden.
Dabei handelt es sich um eine nie überprüfte Darstellung der Ereignisse, die auch in die Forschung übernommen wurde und sich auf das Gerücht von den massenhaften, spontanen Rachemorden der österreichischen Bevölkerung an den Besatzungsmitgliedern abgeschossener Flugzeuge berief.
Grazer Historiker unter der Leitung von Helmut Konrad haben sich dieses bereits während des Krieges kursierende Gerücht von der „Fliegerlynchjustiz“näher angesehen und dabei ein bislang unentdecktes Geflecht an Propaganda, Lügen und Vertuschung ans Licht gefördert.
Was den Forschern zunächst ins Auge stach, war die Bereitwilligkeit, mit der das Ns-regime auf diese Gerüchte einging und die Menschen geradezu zur Lynchjustiz ermunterte. So sagte etwa Goebbels 1944: „Sie (die Bevölkerung, Anm.) hat sie erschlagen oder ihnen die Hälse durchgeschnitten – und ähnliches. Wir vergießen deshalb keine Krokodilstränen; und die das getan haben, werden deshalb nicht aufs Schafott geführt“.
Auffällig war auch, dass man von offizieller Seite schon seit 1943 an der Verteufelung der britischen und amerikanischen Flieger gearbeitet hat: Sie wurden nicht mehr als Soldaten, sondern als „Kindermörder“, „Luftgangs- ter“und „Terrorflieger“dargestellt. Warum aber wurden gerade die Flieger zum Objekt dieser Negativ-pr? „Durch die Luftangriffe wurden ab 1943 immer mehr Städte zu Schutt und Asche, und die Nationalsozialisten sahen kaum noch eine Verteidigungsmöglichkeit“, erklärt die Historikerin Nicole-melanie Goll. „Die überlebenden Besatzungsmitglieder der abgeschossenen Flugzeuge waren die einzigen greifbaren Vertreter dieses Luftkrieges“.
Als die Militärgerichte der Westalliierten nach dem Krieg den Gerüchten von der „Fliegerlynchjustiz“nachgingen, stießen sie zwar auf zahllose Morde an Fliegern, aber auch auf eine Wand des Schweigens in der Bevölkerung. Deshalb wurden nur wenige dieser Verbrechen aufgeklärt, und das Gerücht von den „kollektiven Rachetaten im Affekt“konnte sich halten.
Gewaltexzesse nach Plan
„Noch heute kann man lesen, dass die Wucht der Zerstörung durch die Bombenangriffe zu ‚verständlichen Gewaltexzessen‘ seitens der Bevölkerung führte“, berichtet Projektmitarbeiter Georg Hoffmann. Obwohl der Luftkrieg in Österreich erst später und weniger intensiv als im heutigen Deutschland geführt wurde, scheine die Verbrechensquote hier besonders hoch und die Aufklärungsquote extrem gering. Warum? Waren die Österreicher tatsächlich gewalttätiger?
An die 600 Flugzeuge mit rund 5000 Menschen an Bord wurden während des Zweiten Weltkriegs über Österreich abgeschossen. Bislang haben die Forscher 846 Luftangriffe auf österreichische Städte, die Folgen der Flugzeugabschüsse und das Schicksal amerikanischer, britischer, kanadischer, südafrikanischer, neuseeländischer und australischer Flieger in Zusammenarbeit mit dem Pentagon analysiert und in einer Datenbank erfasst.
Mit ihren akribischen Recherchen konnten sie exakt 101 Morde nachweisen – und das Gerücht von der im Affekt haltlos mordenden Bevölkerung entkräften: „Nur bei einem Prozent dieser Morde – von denen nicht mehr als sieben vor Gericht gekommen sind – handelte es sich tatsächlich um Affekttaten der Bevölkerung unmittelbar nach einem Luftangriff“, sagt Georg Hoffmann. „Meist passierten diese Gewaltexzesse jedoch abseits der Bombardierungsgebiete, wo die Flieger von NSFunktionären vor der versammelten Menschenmenge misshandelt wurden. Damit sollte offensichtlich eine Hemmschwelle über- wunden und ein gruppendynamischer Prozess in Gang gesetzt werden.“
In dieser Vorgehensweise zeige sich ein durchgängiges Muster, das auf einen zentralen Plan verweise, ist Hoffmann überzeugt. „Die Lynchjustiz muss als Regel zu gelten haben“, forderte Adolf Hitler wörtlich als adäquate Behandlung feindlicher Flieger.
Was geschah also am 4. März 1945 tatsächlich mit den vier amerikanischen Fliegern? „Es kamen zwar viele Menschen zu den Fallschirmlandeplätzen, aber sie verhielten sich nicht aggressiv“, weiß Nicole-melanie Goll aus zahlreichen Augenzeugenberichten. „Erst als dort lokale Ns-funktionäre erschienen, änderte sich die Stimmung und die Polizei zog sich zurück.“
Besonders hervorgetan habe sich der Ortsbauernführer des nahe gelegenen Ortes Straßgang, Franz Lienhart, der einen der amerikanischen Flieger schwer misshandelte, bevor dieser von einem Ss-mann erschossen wurde. Sein Sohn, der Ss-untersturmführer Markus Lienhart, erschoss zwei weitere Crewmitglieder.
Täter freigesprochen
Der vierte Flieger sollte vom Volkssturmmann August Fuchs auf Befehl von Leutnant Franz Neidenik erschossen werden. „Fuchs traf den Amerikaner, der vor Schmerzen schrie, aber nur in den Bauch“, schildert Goll. „Nun forderten mehrere Ns-funktionäre die Menschenmenge auf, den ‚Terrorflieger‘ zu erschlagen. Als nichts geschah, trat Neidenik vor und tötete den Flieger durch einen Genickschuss.“Die Leichen der vier ermordeten Flieger wurden auf Befehl der Gauleitung an den Tatorten aufgelegt und zur Plünderung freigegeben. Die Mörder von der Ns-ortsgruppe wurden zu einer „Siegesfeier“geladen.
Franz Neidenik wurde 1960 von einem Grazer Geschworenengericht übrigens freigesprochen. August Fuchs hat man zwar zu neun Jahren Kerker verurteilt, er saß aber nach einigen Monaten U-haft nie mehr in einem österreichischen Gefängnis. Markus Lienhart wurde 1946 zum Tod verurteilt, sein Vater musste für die Misshandlungen acht Jahre einsitzen.