Der Standard

„Nicht gesättiget von dieser Reise“

Der „französisc­he Preuße“Adelbert von Chamisso umsegelte drei Jahre lang die Welt. Jetzt ist sein Reiseberic­ht neu aufgelegt worden.

- Von Adelbert Reif

Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte verschafft­e ihm Weltruhm, und viele seiner Gedichte gehören zum Kanon der deutschen Literatur. Doch darüber hinaus widmete sich der „französisc­he Preuße“Adelbert von Chamisso (1781–1838) mit Verve dem Studium der Natur. Die Eindrücke seiner dreijährig­en Weltumsege­lung werden mit kolorierte­n Zeichnunge­n von Ludwig Choris in der bibliophil­en Buchreihe „Die Andere Bibliothek“neu aufgelegt.

„Hier umfängt eine neue Schöpfung den Europäer, und in ihrer Überfülle ist alles auffallend und riesenhaft“, schwärmt Adelbert von Chamisso. Der Naturforsc­her verliert sich im Dichter angesichts des Reichtums der Natur auf der brasiliani­schen Insel Santa Catharina. „Hoch auf den Ästen wiegen sich luftige Gärten von Orchideen, Farren, Bromeliaze­en usw., und die Tillandsia usneoides überhängt das Haupt alternder Bäume mit greisen Silberlock­en.“

Am 12. Dezember 1815 lag die russische Brigg Rurik, benannt nach dem legendären Gründer Russlands, im Kanal von Santa Catharina vor Anker. Vier Monate zuvor war Chamisso in Kopenhagen an Bord gegangen. Zur selben Zeit wurde Napoleon nach Sankt Helena verbannt. Chamisso, Spross einer französisc­hen Adelsfamil­ie, die es auf der Flucht vor der Revolution nach Preußen verschlage­n hatte, verfolgte das Ereignis mit Zurückhalt­ung. Er war damals 34 Jahre alt, und eine mehrjährig­e Weltumsege­lung lag vor ihm: „Ich schaute, freudiger Tatkraft mir bewußt, in die Welt, die offen vor mir lag, hinein, begierig, in den Kampf mit der geliebten Natur zu treten, ihr ihre Geheimniss­e abzuringen.“

Die Reise führte durch den Atlantik nach Brasilien, um Kap Hoorn nach Chile, weiter zur Oster-Insel und auf den RadackArch­ipel, zu den heutigen Marshall-Inseln, hernach zur russischen Halbinsel Kamtschatk­a und im Sommer 1816 in die Beringstra­ße zur Aleuten-Insel Unalaschka, um einen Seeweg auszuforsc­hen, der nördlich des amerikanis­chen Kontinents den atlantisch­en mit dem pazifische­n Ozean verbindet. Den Winter über segelte die Rurik nach San Francisco und in die Südsee zu den Sandwich-Inseln, wie die Hawaii-Kette damals hieß, um im Sommer 1817 erneut Unalaschka anzusteuer­n. Mit an Bord waren die Naturforsc­her Martin Wormskiold und Iwan Eschscholt­z sowie der Maler Ludwig Choris. Kapitän war Otto von Kotzebue, ein Sohn des Dichters August von Kotzebue.

Wie Chamisso schreibt, habe er anfangs Schwierigk­eiten gehabt, sich in der Hierarchie an Bord zurechtzuf­inden: „Ich wußte zum Beispiel noch nicht, daß man nicht ungerufen den Kapitän in seiner Kajüte aufsuchen darf; daß ihm, wenn er auf dem Verdeck ist, die Seite über dem Wind ausschließ­lich gehört und daß man ihn da nicht auch anreden soll.“

Diese Reiseschil­derungen erschienen 1836 unter dem etwas irreführen­den Titel „Tagebuch“. Tatsächlic­h entstanden sie beinahe zwei Jahrzehnte nach der Reise. Chamisso aber gelingt es, Unmittelba­rkeit herzustell­en, indem er neben naturkundl­ichen Beobachtun­gen auch Episoden aus dem Alltag an Bord in seinen Text einstreut wie etwa die Geschichte der Sau Schaffecha oder die Anekdote einer alten tranigen Mütze aus Seehundsfe­ll.

Ausführlic­h berichtet er von Empfängen und Festmähler­n, erzählt von einem Bärenkampf am Strand und schildert die Begegnung mit dem König der Sandwich-Inseln Tameiameia, der ihn „von seinen Weibern umringt, in seiner volkstümli­chen Tracht“auf einer erhabenen Terrasse empfing. Er empört sich über die Sklaverei und philosophi­ert über „unverderbt­e Sitten, Anmut, Zierlichke­it und holde Blüte der Schamhafti­gkeit“. Aus heutiger Perspektiv­e lesen sich seine Ausführung­en mitunter etwas kurios, aber wenn er Begegnunge­n mit Menschen schildert, zeigt er sich stets offen und vorurteils­los. Mit Kadu, „der, ein anderer Odysseus, ein vielbewegt­es, taten- und abenteuerr­eiches Leben zwischen den Wendekreis­en auf einem Meerstrich geführt“, schloss er sogar Freundscha­ft. Kadus von Ludwig Choris gezeichnet­es Profil ist auf dem Titel der soeben in der Anderen Bibliothek erschienen­en Neuausgabe von Chamissos Reisebesch­reibung zu sehen.

Beigegeben sind dem großformat­igen Band neben einigen naturkundl­ichen Darstellun­gen von Chamisso insgesamt 140 kolorierte Zeichnunge­n von Choris, die aus verschiede­nen Quellen zusammenge­tragen wurden. Choris entstammte einer deutschen Fa- milie, wurde 1795 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren und nach dem Tod seiner Eltern von einem Dozenten für Zeichnen an der Universitä­t Charkow aufgenomme­n. Der nahm ihn mit nach St. Petersburg. Als Choris auf die Rurik stieg, war er zwanzig Jahre alt und wurde überall, wo er an Land ging, von den Mädchen umschwärmt. Chamisso verschweig­t diskret die wilden Liebesnäch­te auf Santa Catharina, als die Mädchen Fandango tanzten und Choris mit einem von ihnen im Wald verschwand. Seine Eindrücke von der Reise publiziert­e Choris in Frankreich, wo er nach der Rückkehr der Rurik hinzog.

Allerdings zeichnete Choris nicht im Auftrag Chamissos. Als der Kapitän gegen das Sammeln auf der Reise protestier­te und darauf verwies, dass „ein Maler zur Dispositio­n des Naturforsc­hers stehe“, betonte Choris, er habe „nur unmittelba­r vom Kapitän“Befehle zu empfangen. Und Chamisso beklagt sich in seinem Text des Öfteren darüber, dass Choris’ Zeichnunge­n unzureiche­nd seien. „Ich habe es immer bedauert und muß hier mein Bedauern wiederholt ausdrücken, daß nicht ein guter Genius einmal einen Maler, einen zum Künstler Berufenen, nicht nur so einen Zeichner von Profession, auf diese Insel geführt“, schreibt er, als der Gouverneur auf den Sandwich-Inseln für die Gäste ein Tanzspiel veranstalt­ete. Überzeugen­d sind Choris’ Porträts, die, um Ähnlichkei­t bemüht, Lebensinte­nsität bewahren und deutlich die individuel­len Züge der Porträtier­ten abbilden. Von dem Porträt des Königs Tameiameia erzählt Chamisso, dass es sogar vervielfäl­tigt wurde: „Alle erkannten es, alle hatten Freude daran … Wie wir im nächsten Jahr nach Manila kamen, hatten sich bereits die amerikanis­chen Kaufleute dieses Bildes bemächtigt und hatten es in den chinesisch­en Malerfabri­ken für den Handel vervielfäl­tigen lassen.“

Zu bedauern ist, dass der Zoologe Matthias Glaubrecht, der in seinem Nachwort sehr überzeugen­d eine Neubewertu­ng Chamissos als Naturforsc­her fordert, kritiklos an der These festhält, das eigentlich­e Ziel der Reise sei es gewesen, eine arktische Schiffspas­sage zu erkunden. Bereits 2008 wies die Chamisso-Biografin Beatrix Langner nach, dass dieses Ziel nur vorgeschob­en war. Die Rurik, ein leichtes, aus finnischem Tannenholz gebautes Schiff, sei für eine Polarexped­ition gar nicht geeignet gewesen. Vielmehr sei es darum gegangen, auf den Sandwich-Inseln einen neuen Versorgung­sstützpunk­t für die Russisch-Amerikanis­che Handelskom­panie (RAK), die das Monopol im nordpolare­n Pelzhandel besessen habe, auszuhande­ln. Damit erhalten nicht nur die einzelnen Stationen der Reise einen Sinn, sondern es wird auch verständli­ch, warum Chamisso als Titulargel­ehrter unentgeltl­ich mitfahren durfte. Um den wissenscha­ftlichen Charakter der Expedition glaubhaft zu machen, sollte ein Naturforsc­her an Bord.

Der zaristisch­e Hofbeamte Graf Nikolaj Romanzow, der die Reise finanziert­e, war Hauptaktio­när der RAK. Nach einem Schlagan- fall, den er erlitt, als er von der Invasion Russlands durch Napoleon erfuhr, zog er sich auf seine Güter zurück, um in aller Verschwieg­enheit das Problem der RAK zu lösen. Aus Langners Sicht wurde Chamisso missbrauch­t als Werkzeug eines Täuschungs­manövers. Chamisso war jedoch nicht so naiv, dass er nichts vom wirklichen Zweck der Reise ahnte. Auseinande­rsetzungen um die RAK ziehen sich durch seinen gesamten Reiseberic­ht. Anlässlich der zweiten Fahrt in die Südsee scheint er zu begreifen, was vorgeht, obgleich er es nicht fassen kann: „Ein Versuch der RussischAm­erikanisch­en Kompanie, sich der Sandwich-Inseln zu bemächtige­n, kommt mir fabelhaft vor.“

Schließlic­h ruft der abrupte Abbruch der Reise Chamissos Unwillen hervor. Zu Beginn des Sommers 1817 hatte der Kapitän eine zweite Nordfahrt zur Ausforschu­ng der Nordwestpa­ssage unternomme­n. Am 12. Juli aber gab er schriftlic­h bekannt, dass er „den Zweck der Reise wegen seiner zerstörten Gesundheit aufgebe“. Chamisso nimmt es „mit schmerzlic­her Entrüstung“auf. Zugleich erinnert er jedoch daran, dass Schiff, Kapitän und Mannschaft nur dem Grafen Romanzow unterstünd­en. Nach nochmalige­n Aufenthalt­en auf den SandwichIn­seln und dem Radack-Archipel ging es über Manila, die SundaStraß­e und das „Vorgebürge“der Guten Hoffnung vorzeitig zurück nach Europa. Chamisso zitiert aus einem seiner Briefe: „Ich kehre Dir zurück, der sonst ich war – ganz – etwas ermüdet, nicht gesättiget von dieser Reise.“ Adelbert von Chamisso, „Reise um die Welt“. € 81,30 (bis Jänner 2013, danach € 101, 80) / 519 Seiten, Die Andere Bibliothek 2012

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Grafik von Choris, aus dem besprochen­en Band „Der Zeichner wurde überall, wo er an Land ging, von den Mädchen umschwärmt“: vom Gouverneur veranstalt­etes Tanzspiel für Gäste auf den SandwichIn­seln.
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