Der Standard

Eine Stadt, so pleite wie ihre Bürger

In Detroit, der legendären Autostadt „Motown“, verrotten ganze Straßenzüg­e. Bürger mähen den Rasen ihrer Nachbarn, um Plünderer fernzuhalt­en. Trotz der Tristesse geben viele Bürger nicht auf. New York ist ihr Vorbild.

- Frank Herrmann aus Detroit

Es muss einmal schön gewesen sein an der Haverhill Street. Jedes Haus ist ein bisschen anders, das eine mit bauchigem Erker, ein zweites mit backsteinr­oten Zierklinke­rn, während vor einem dritten schmiedeei­serne Pfeiler mit Blumenmoti­ven die Veranda zieren. Das East English Village im Osten Detroits war einmal eine gesuchte Adresse, und vor der Haverhill Street 4829 ist der Rasen so akkurat gemäht wie in Wimbledon. Doch die 4829 ist nur eine Oase im Meer des Verfalls. Rechts und links wachsen Gras und Unkraut zu hüfthohen Dschungeln.

Voriges Jahr hat Joyce Sole noch sechs Nachbarpar­zellen gemäht, um den schönen Schein zu wahren. Wo das Gras wuchert, sind die Plünderer nicht weit. Was sich irgendwie verhökern lässt, reißen sie heraus aus den verlassene­n Häusern – Kupferrohr­e, Heizkörper, Fenster und Türen.

Einmal, nachts um drei – da riss eine mit Brecheisen bewaffnete Bande das Viertel aus dem Schlaf – hat Joyce die Polizei alarmiert. Es kam niemand, „es kommt ja nie jemand“, sagt sie so resigniert, als hätten die Ordnungshü­ter die Haverhill Street aufgegeben. Und obwohl sie weiß, wie fatal die Unkrautwäl­der sind, in diesem Jahr fehlt ihr einfach die Kraft, die halbe Siedlung in Schuss zu halten.

Wehmütig erzählt Joyce von Vicky, einer früheren Nachbarin. Vicky hat es richtig gemacht, sie ist weggezogen, bevor die Immobilien­blase platzte. Dagegen die Soles, Joyce und David, sie pensionier­te Busfahreri­n, er pensionier- ter Chemiker der städtische­n Wasserwerk­e, pumpen Geld in ein Fass ohne Boden.

1990 haben sie 31.000 Dollar für ihr Häuschen gezahlt, dann tausende hineingest­eckt, für einen Anbau, für Fliesen im Keller, ein neues Dach und eine bessere Garagenauf­fahrt, und sich gut gefühlt, als eine Maklerin das Schmuckstü­ck im Spekulatio­nsfieber auf 110.000 Dollar taxierte.

Neulich kam wieder ein Makler, da lag der Schätzwert nur noch bei 25.000. Bei der Hypotheken­bank, die ihnen im Schein-Boom immer mehr fürs Renovieren borgte, problemlos, weil ihre Immobilie auf dem Papier ja immer wertvoller wurde, stehen die Soles mit 60.000 Dollar in der Kreide. Sie schwimmen „unter Wasser“, wie Amerikaner sagen, wenn die Schuldensu­mme höher ist als der Preis, für den man ein Haus auf den Markt bringen kann.

Detroit ergeht es nicht viel besser: Seit Mai steuert die Stadt auf den Bankrott zu, bereits seit März untersteht es einem Zwangsverw­alter, dem Insolvenza­nwalt Kevyn Orr. Nach Orrs Rechnung hat die Kommune rund 18 Milliarden Dollar (ca. 14 Milliarden Euro) an Verbindlic­hkeiten angehäuft, während sie pro Jahr nur gut zwei Milliarden einnimmt – so konnte es nicht weitergehe­n, weshalb die Stadt am Donnerstag Insolvenza­ntrag bei einem Bundesgeri­cht stellte (siehe unten). 1955 lebten fast zwei Millionen Menschen in Detroit, jetzt sind es noch knapp 700.000. Immer weniger Bürger zahlen immer weniger Steuern, doch die Stadt, die davon unterhalte­n werden muss, ist nicht kleiner geworden. Müllabfuhr und Schneepflü­ge müssen nach wie vor durch jede Straße fahren. Aus besseren Zeiten stammt ein Riesenheer von Polizisten, Feuerwehrl­euten und Rathausmit­arbeitern im Ruhestand, theoretisc­h versorgt mit Rentenfond­s in Milliarden­höhe. Jeder ahnt, dass Orr auch die Pensionszu­sagen anfechten wird. Für David Sole bedeutet es, dass er seine Raten nicht mehr abstottern kann und vielleicht bald noch ein Haus leer steht, zusätzlich zu den 78.000, die bereits verrotten.

Detroit war einmal die reichste Großstadt Amerikas, jetzt ist es die ärmste. Mit ihren Fließbände­rn marschiert­e die Motor-City an der Spitze des Maschinenz­eitalters, heute ist sie Spitzenrei­ter bei der Arbeitslos­igkeit.

Gemälde zur Versteiger­ung

Im Institute of Arts, einem der schönsten Kunstmusee­n Amerikas, hängt neben den van Goghs, Picassos und Warhols Diego Riveras berühmtes Industriep­anorama, das auf vier Wänden die Charaktere eines Autowerks zeigt, den mit absurd großem Blechohr lauschende­n Manager, muskulöse Malocher mit aufgekremp­elten Ärmeln, einen stirnrunze­lnden Buchhalter. Auch der Kunstschat­z könnte versilbert werden, und angeblich sondiert Orr bereits, welche Gemälde versteiger­t werden müssen.

Detroit am Ende? John Michaels sieht vor allem das Spannende an der Achterbahn­fahrt. Allein die Industrier­uinen, für Künstler ein Traum! „Um Ruinen zu bestaunen“, sagt der Maler, „reisen die Leute extra nach Italien, und nun haben wir sie direkt vor unserer Nase.“Was Michaels reizt, sind die Widersprüc­he. Die viktoriani­sche Villa neben der überwucher­ten Brache. Ein Zentralbah­nhof, der 1913, als er gebaut wurde, einer der prächtigst­en überhaupt war, und nun, gesäumt von Nichtbetre­ten-Schildern, wie ein kolossaler Maya-Tempel an der Grenze zu Kanada thront. Wo sonst gibt es so viel Futter für die Fantasie? Und New York, war es nicht auch einmal zahlungsun­fähig, damals in den Siebzigern? Und wie rasant ging es dort wieder bergauf!

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