Eine Stadt, so pleite wie ihre Bürger
In Detroit, der legendären Autostadt „Motown“, verrotten ganze Straßenzüge. Bürger mähen den Rasen ihrer Nachbarn, um Plünderer fernzuhalten. Trotz der Tristesse geben viele Bürger nicht auf. New York ist ihr Vorbild.
Es muss einmal schön gewesen sein an der Haverhill Street. Jedes Haus ist ein bisschen anders, das eine mit bauchigem Erker, ein zweites mit backsteinroten Zierklinkern, während vor einem dritten schmiedeeiserne Pfeiler mit Blumenmotiven die Veranda zieren. Das East English Village im Osten Detroits war einmal eine gesuchte Adresse, und vor der Haverhill Street 4829 ist der Rasen so akkurat gemäht wie in Wimbledon. Doch die 4829 ist nur eine Oase im Meer des Verfalls. Rechts und links wachsen Gras und Unkraut zu hüfthohen Dschungeln.
Voriges Jahr hat Joyce Sole noch sechs Nachbarparzellen gemäht, um den schönen Schein zu wahren. Wo das Gras wuchert, sind die Plünderer nicht weit. Was sich irgendwie verhökern lässt, reißen sie heraus aus den verlassenen Häusern – Kupferrohre, Heizkörper, Fenster und Türen.
Einmal, nachts um drei – da riss eine mit Brecheisen bewaffnete Bande das Viertel aus dem Schlaf – hat Joyce die Polizei alarmiert. Es kam niemand, „es kommt ja nie jemand“, sagt sie so resigniert, als hätten die Ordnungshüter die Haverhill Street aufgegeben. Und obwohl sie weiß, wie fatal die Unkrautwälder sind, in diesem Jahr fehlt ihr einfach die Kraft, die halbe Siedlung in Schuss zu halten.
Wehmütig erzählt Joyce von Vicky, einer früheren Nachbarin. Vicky hat es richtig gemacht, sie ist weggezogen, bevor die Immobilienblase platzte. Dagegen die Soles, Joyce und David, sie pensionierte Busfahrerin, er pensionier- ter Chemiker der städtischen Wasserwerke, pumpen Geld in ein Fass ohne Boden.
1990 haben sie 31.000 Dollar für ihr Häuschen gezahlt, dann tausende hineingesteckt, für einen Anbau, für Fliesen im Keller, ein neues Dach und eine bessere Garagenauffahrt, und sich gut gefühlt, als eine Maklerin das Schmuckstück im Spekulationsfieber auf 110.000 Dollar taxierte.
Neulich kam wieder ein Makler, da lag der Schätzwert nur noch bei 25.000. Bei der Hypothekenbank, die ihnen im Schein-Boom immer mehr fürs Renovieren borgte, problemlos, weil ihre Immobilie auf dem Papier ja immer wertvoller wurde, stehen die Soles mit 60.000 Dollar in der Kreide. Sie schwimmen „unter Wasser“, wie Amerikaner sagen, wenn die Schuldensumme höher ist als der Preis, für den man ein Haus auf den Markt bringen kann.
Detroit ergeht es nicht viel besser: Seit Mai steuert die Stadt auf den Bankrott zu, bereits seit März untersteht es einem Zwangsverwalter, dem Insolvenzanwalt Kevyn Orr. Nach Orrs Rechnung hat die Kommune rund 18 Milliarden Dollar (ca. 14 Milliarden Euro) an Verbindlichkeiten angehäuft, während sie pro Jahr nur gut zwei Milliarden einnimmt – so konnte es nicht weitergehen, weshalb die Stadt am Donnerstag Insolvenzantrag bei einem Bundesgericht stellte (siehe unten). 1955 lebten fast zwei Millionen Menschen in Detroit, jetzt sind es noch knapp 700.000. Immer weniger Bürger zahlen immer weniger Steuern, doch die Stadt, die davon unterhalten werden muss, ist nicht kleiner geworden. Müllabfuhr und Schneepflüge müssen nach wie vor durch jede Straße fahren. Aus besseren Zeiten stammt ein Riesenheer von Polizisten, Feuerwehrleuten und Rathausmitarbeitern im Ruhestand, theoretisch versorgt mit Rentenfonds in Milliardenhöhe. Jeder ahnt, dass Orr auch die Pensionszusagen anfechten wird. Für David Sole bedeutet es, dass er seine Raten nicht mehr abstottern kann und vielleicht bald noch ein Haus leer steht, zusätzlich zu den 78.000, die bereits verrotten.
Detroit war einmal die reichste Großstadt Amerikas, jetzt ist es die ärmste. Mit ihren Fließbändern marschierte die Motor-City an der Spitze des Maschinenzeitalters, heute ist sie Spitzenreiter bei der Arbeitslosigkeit.
Gemälde zur Versteigerung
Im Institute of Arts, einem der schönsten Kunstmuseen Amerikas, hängt neben den van Goghs, Picassos und Warhols Diego Riveras berühmtes Industriepanorama, das auf vier Wänden die Charaktere eines Autowerks zeigt, den mit absurd großem Blechohr lauschenden Manager, muskulöse Malocher mit aufgekrempelten Ärmeln, einen stirnrunzelnden Buchhalter. Auch der Kunstschatz könnte versilbert werden, und angeblich sondiert Orr bereits, welche Gemälde versteigert werden müssen.
Detroit am Ende? John Michaels sieht vor allem das Spannende an der Achterbahnfahrt. Allein die Industrieruinen, für Künstler ein Traum! „Um Ruinen zu bestaunen“, sagt der Maler, „reisen die Leute extra nach Italien, und nun haben wir sie direkt vor unserer Nase.“Was Michaels reizt, sind die Widersprüche. Die viktorianische Villa neben der überwucherten Brache. Ein Zentralbahnhof, der 1913, als er gebaut wurde, einer der prächtigsten überhaupt war, und nun, gesäumt von Nichtbetreten-Schildern, wie ein kolossaler Maya-Tempel an der Grenze zu Kanada thront. Wo sonst gibt es so viel Futter für die Fantasie? Und New York, war es nicht auch einmal zahlungsunfähig, damals in den Siebzigern? Und wie rasant ging es dort wieder bergauf!