Verwirrende Abendeinlagen des türkischen Premiers
Erdogan überrascht Zuhörer: „Nehmt keine Kreditkarten“, „Ich bin das leuchtende Beispiel eines Aleviten“
Wenn der Muezzin nun zum Abendgebet ruft, dann ist Showtime im türkischen Politgeschäft. Kaum eine Feier zum abendlichen Fastenbrechen vergeht, bei der Regierungschef Tayyip Erdogan nicht mit unerwarteten Äußerungen von sich reden macht. Die Themen dieser Woche: Kreditkarten, der alevitische Glaube, die vom Westen hofierte Putschregierung in Kairo. Wenn Erdogan spricht, halten Investoren und Diplomaten den Atem an.
„Nehmt nicht diese Kreditkarten“, empfahl er Anfang der Woche in Ankara bei einem Essen mit Hinterbliebenen von Soldaten. „Mein Volk hat große Schulden bei den Banken“, erklärte der Premier und begann, die türkischen Geldinstitute und die „Zinslobby“zu attackieren, eine seiner Erklärungen für die Demokratieproteste im Land.
Erdogan überraschte damit seine Wirtschafts- und Finanzminister, die in den vergangenen Wochen damit beschäftigt waren, die Märkte wegen der harten Rhetorik ihres Regierungschefs gegen Unternehmer zu beruhigen, die mit der Protestbewegung sympathisieren. Konsum war bisher eine Leitidee der bald elf Jahre regierenden konservativ-islamischen AKP. Shopping-Malls und Eigenheime galten als Markenzeichen des lang anhaltenden Wirtschaftsbooms in der Türkei.
Nach den Kreditkarten kamen die Aleviten, die vielleicht zehn Millionen Menschen große Glaubensgemeinschaft in der Türkei. Erdogan und seine Gefolgsleute, allesamt Sunniten, hatten sie mit ihrer Weigerung aufgebracht, die alevitischen Gebetshäuser anzuerkennen – Muslime müssten eine Moschee mit Minarett haben, erklärten AKP-Politiker. Verbittert hat die Aleviten zuletzt aber die Namensgebung für die im Bau befindliche dritte Bosporusbrücke, benannt nach Yavuz Sultan Selim, dem Grausamen, der Historikern zufolge mehrere Zehntausend Aleviten umbringen ließ.
„Wenn Alevit sein heißt, Ali zu lieben (Schwiegersohn des Propheten Mohammed, Anm.), dann bin ich das leuchtende Beispiel eines Aleviten“, gab Erdogan nun bei einem anderen Essen diese Woche bekannt. Der Premier mache sich wohl über die Aleviten lustig, stellte ein führender Vertreter der Glaubensgemeinschaft fest.
Das „Problem Erdogan“
Beobachter in der Türkei führen Erdogans zunehmend bizarr anmutende Einlassungen auf die politischen Unsicherheiten zurück, die der Regierungschef selbst verursacht hat. Das „Problem Erdogan“nannte das dieser Tage die Publizistin Tulin Daloglu. Erdogan will einerseits nächstes Jahr zum Staatschef gewählt werden; andererseits ist mittlerweile unrealistisch, dass die Türkei eine Präsidialverfassung erhält, wie Erdogan sie wünscht. So scheint die Zukunft des ganz auf Erdogan zugeschnittenen Regierungssystems offen. Und drei Probleme sind dazugekommen: die Demokratieproteste im Land, der Friedensprozess mit der PKK, der auf der Kippe steht; der Regimewechsel in Ägypten, den Ankara einfach nicht hinnehmen will.