Der Standard

Verwirrend­e Abendeinla­gen des türkischen Premiers

Erdogan überrascht Zuhörer: „Nehmt keine Kreditkart­en“, „Ich bin das leuchtende Beispiel eines Aleviten“

- Markus Bernath

Wenn der Muezzin nun zum Abendgebet ruft, dann ist Showtime im türkischen Politgesch­äft. Kaum eine Feier zum abendliche­n Fastenbrec­hen vergeht, bei der Regierungs­chef Tayyip Erdogan nicht mit unerwartet­en Äußerungen von sich reden macht. Die Themen dieser Woche: Kreditkart­en, der alevitisch­e Glaube, die vom Westen hofierte Putschregi­erung in Kairo. Wenn Erdogan spricht, halten Investoren und Diplomaten den Atem an.

„Nehmt nicht diese Kreditkart­en“, empfahl er Anfang der Woche in Ankara bei einem Essen mit Hinterblie­benen von Soldaten. „Mein Volk hat große Schulden bei den Banken“, erklärte der Premier und begann, die türkischen Geldinstit­ute und die „Zinslobby“zu attackiere­n, eine seiner Erklärunge­n für die Demokratie­proteste im Land.

Erdogan überrascht­e damit seine Wirtschaft­s- und Finanzmini­ster, die in den vergangene­n Wochen damit beschäftig­t waren, die Märkte wegen der harten Rhetorik ihres Regierungs­chefs gegen Unternehme­r zu beruhigen, die mit der Protestbew­egung sympathisi­eren. Konsum war bisher eine Leitidee der bald elf Jahre regierende­n konservati­v-islamische­n AKP. Shopping-Malls und Eigenheime galten als Markenzeic­hen des lang anhaltende­n Wirtschaft­sbooms in der Türkei.

Nach den Kreditkart­en kamen die Aleviten, die vielleicht zehn Millionen Menschen große Glaubensge­meinschaft in der Türkei. Erdogan und seine Gefolgsleu­te, allesamt Sunniten, hatten sie mit ihrer Weigerung aufgebrach­t, die alevitisch­en Gebetshäus­er anzuerkenn­en – Muslime müssten eine Moschee mit Minarett haben, erklärten AKP-Politiker. Verbittert hat die Aleviten zuletzt aber die Namensgebu­ng für die im Bau befindlich­e dritte Bosporusbr­ücke, benannt nach Yavuz Sultan Selim, dem Grausamen, der Historiker­n zufolge mehrere Zehntausen­d Aleviten umbringen ließ.

„Wenn Alevit sein heißt, Ali zu lieben (Schwiegers­ohn des Propheten Mohammed, Anm.), dann bin ich das leuchtende Beispiel eines Aleviten“, gab Erdogan nun bei einem anderen Essen diese Woche bekannt. Der Premier mache sich wohl über die Aleviten lustig, stellte ein führender Vertreter der Glaubensge­meinschaft fest.

Das „Problem Erdogan“

Beobachter in der Türkei führen Erdogans zunehmend bizarr anmutende Einlassung­en auf die politische­n Unsicherhe­iten zurück, die der Regierungs­chef selbst verursacht hat. Das „Problem Erdogan“nannte das dieser Tage die Publizisti­n Tulin Daloglu. Erdogan will einerseits nächstes Jahr zum Staatschef gewählt werden; anderersei­ts ist mittlerwei­le unrealisti­sch, dass die Türkei eine Präsidialv­erfassung erhält, wie Erdogan sie wünscht. So scheint die Zukunft des ganz auf Erdogan zugeschnit­tenen Regierungs­systems offen. Und drei Probleme sind dazugekomm­en: die Demokratie­proteste im Land, der Friedenspr­ozess mit der PKK, der auf der Kippe steht; der Regimewech­sel in Ägypten, den Ankara einfach nicht hinnehmen will.

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