„Anschläge waren kein Blitz, der aus dem Nichts kam“
Die Breivik-attentate jähren sich am Montag zum zweiten Mal. Die Ursachen seien nicht aufgearbeitet worden, die islamfeindliche Rhetorik sei zurückgekehrt, kritisiert der Utoya-überlebende Ali Esbati. Die Fragen stellte Michaela Kampl.
Standard: Wie werden 22. Juli 2013 verbringen? Esbati: Ich werde in Oslo sein. Aber ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich an einer der Veranstaltungen anlässlich des Jahrestages teilnehmen werde. Standard: Wie hat Sie das Attentat verändert? Esbati: Ich habe mich von Anfang an dazu entschieden, viel darüber zu reden – sowohl auf professioneller als auch auf privater Ebene. Ich hatte das Glück, auf Utoya nicht Augenzeuge der brutalsten Ereignisse geworden zu sein. Ich habe zwar Tote gesehen, aber ich war nicht dabei, als jemand erschossen wurde. Aber natürlich haben mich die Ereignisse mitgenommen. Vier oder fünf Monate danach kam es zum erwarteten Rückschlag. Ich habe mich ausgebrannt und müde gefühlt. Standard: Hatte Breiviks Attacke nachhaltige Auswirkungen auf die norwegische Gesellschaft? Esbati: Was in Norwegen nur wenige Tage nach dem Anschlag passiert ist, war auf vielen Ebenen eindrucksvoll. Aber zwei Jahre danach sind wir wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt. Norwegen hat es nicht geschafft, die Ereignisse in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext einzubetten und sie als etwas zu sehen, was unter den aktuellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft stattfand. Die Anschläge waren ja kein Blitz, der aus dem Nichts kam. Standard: Woran ist eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Geschehenen gescheitert? Esbati: Dafür gibt es mehrere Ursachen. Zum einen war es ein wirklich außergewöhnliches Ereignis. Die natürlich bestehende Diskrepanz zwischen diesem Attentat und dem politischen Alltag in Norwegen macht es kompliziert, daraus Lehren abzuleiten. Außerdem gibt es starke politische Kräfte, die sehr wenig Interesse an einer solchen Diskussion haben. Standard: Kräfte? Esbati: Zum Beispiel die rechtspopulistische Fortschrittspartei („Fremskrittspartiet“), die eine große Rolle dabei gespielt hat, islamfeindliche Positionen in die Alltagsdebatte einzuführen.
Welche
politischen Standard: Einige Utoya-Überlebenden kandidieren für die Sozialdemokraten bei der Parlamentswahl am 9. September. Werden sie die Parteilinie in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem BreivikAnschlag beeinflussen? Esbati: Meiner Meinung nach gibt es diesen gemeinsamen Standpunkt der Überlebenden nicht. Derzeit sieht es den Umfragen zu-
der folge auch so aus, als würden die Sozialdemokraten die Wahl verlieren und nicht mehr die Regierung stellen. Standard: Sind der Anschlag und die Auseinandersetzung damit überhaupt Thema im Wahlkampf? Esbati: Per se ist es kein Thema. Aber der Anschlag hatte ironischerweise einen negativen Effekt auf die regierende sozialdemokratische Partei. Nach dem Ende des Breivik-Prozesses gab es eine gro- ße öffentliche Debatte über eventuelle Fehler und Fehleinschätzungen des Sicherheitsapparats. Das hat sich hauptsächlich negativ auf die Regierung ausgewirkt. Die Kritik der Opposition und der Medien war sehr harsch. ALI ESBATI (36) ist Ökonom und lebt in Norwegen. Er befand sich am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utoya und sollte einen Workshop beim sozialdemokratischen Jugendcamp leiten.
derStandard.at/International