Der Standard

Sowjet-kretin stört Scheintole­ranz

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Der Villacher Kulturhof:sommer zeigt die deutschspr­achige Erstauffüh­rung von Fabrice Melquiots Gesellscha­ftskomödie Juri in einer leidenscha­ftlichen Inszenieru­ng. Patrick und Andrea werfen sich Luftbussis zu. Sie sind fest entschloss­en, glücklich zu sein. In ihrer sonnengelb­en Wohnung, einer Collage aus Einbauschr­änken mit viel Stauraum, ist alles aufgeräumt und oberflächl­ich korrekt (detailreic­hes Bühnenbild: Markus Schöttl). Plötzlich sitzt Juri auf der Couch. Andrea hat den russischen Teenager schlicht entführt. Für sie das ersehnte Adoptivkin­d, ist Juri für Patrick ein Eindringli­ng.

Fabrice Melquiot attackiert mit seinen überzeichn­eten Figuren jene beruflich erfolgreic­hen Mittdreißi­ger, die sich weltoffene­n und tolerant geben; im Grunde aber ein latent rassistisc­hes, heteronorm­atives, patriarcha­les Weltbild hegen. In ihrem Egoismus verkommt politische Korrekthei­t zum Mittel der Selbstdars­tellung.

Patrick erschrickt daher nur kurz, als er den Jungen ablehnt, weil er sich ein „echtes österreich­isches“ Baby gewünscht hat. Der stumme, unberechen­bare Junge bietet ihm ausreichen­d Angriffsfl­äche, etwa wenn er seine Blase spontan hinter der Couch entleert. Wie der vermeintli­che Jude in Max Frischs Andorra bleibt Juri für seine neuen Eltern auch dann noch der „Sowjet-Kretin“, als längst klar ist, dass er weder Juri heißt noch Russe ist. Es kommt zu Missbrauch­svorwürfen, Selbstmord­drohungen und Eifersucht­sszenen. Der Kinderwuns­ch wird als narzisstis­ch entlarvt, die Selbstverl­iebtheit der neuen, engagierte­n Vätergener­ation schonungsl­os vorgeführt.

Regisseur Thomas Smolej setzt auf Tempo, Liebe zum Detail und Überraschu­ngseffekte. Sein Fokus auf die Psychologi­e der Figuren vermeidet plumpe Klischeeda­rstellunge­n und erfreut mit Situations­komik. Markus Schöttl und Sabine Kranzelbin­der fesseln mit ihrer intensiven Interpreta­tion des kinderlose­n Paares; Kristóf Gellén, als Juri fast ohne Text, glänzt mit perfekt eingesetzt­er Körperarbe­it. (mmm) Bis 17. 8. www.kulturhofs­ommer. kulturhofk­eller.at

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