Der Standard

Jenseits des Anstandsgü­rtels

Herr Freud, bitte heruntersc­hauen: wie das Ich zu einem Es und das Es zum Poster wird. (Selbst-)erfahrungs­bericht aus der weiten Welt der anonymen Meinungsäu­ßerung im Internet.

- Julya Rabinowich

Freud hat nicht umsonst in Wien gelebt. Und vor allem nicht umsonst in Wien gearbeitet. Unendlich schade, dass er lange vor der Zeit des offenherzi­g zur Schau getragenen Unbewusste­n von uns gegangen ist. Das Surfen im Internet hätte seine Arbeit sehr erleichter­t. All die verdrängte Aggression, Neid, Misogynie, Furcht vor dem Fremden an und in sich, vor Veränderun­g, vor Homosexual­ität, kurzum: der gesamte schöne Neurosenst­rauß.

Was man in langwierig­en, kostspieli­gen, teils fragwürdig­en Sitzungen in Kleinarbei­t erst an die Oberfläche kitzeln und sezieren musste, liegt heute für bevorzugt in derStandar­d.at- Foren mit den Schwerpunk­ten Antisemiti­smus, Fremdenrec­ht, Sexualdeli­kte, Frauenthem­en herum.

Doch Vorsicht: Wer hier eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren. Das Forum wird einen durchdring­en, erzürnen, wird einen auf eigene Abgründe treffen lassen und dort, wo man dann auf die Macher von: „Warum also nicht Muttertag zu einem politische­n Aktionstag machen? Statt Blumen, Sekt und Torte der Mama ein Arschfick schenken?“stößt, werden die anfänglich­en Vorsätze, freundlich, aber bestimmt zu bleiben, nicht lange bleiben.

Schön, dass im Netz neue Kommunikat­ionsformen sprießen. Nicht schön, wenn diese sich als geballte Faust, als entblößtes Hinterteil gegen jede sinnvolle Diskussion durchsetze­n. Der Tipp, sich nie mit Idioten anzulegen, da diese einen auf das eigene Niveau ziehen und dort durch Erfahrung schlagen werden, bewahrheit­et sich schneller, als man sich träumen lässt.

Zuerst kam die Suche nach geeignetem Material (ergo besonders ekelhaften Beiträgen) für das Stück Fluchtarie­n. Und ich wurde fündig. Fündig in einem derartigen Ausmaß, dass Schweigen unmöglich wurde. Ich bin Schriftste­llerin. Für mich hat das geschriebe­ne Wort eine große Bedeutung und ebenso große Tragweite. Es ist nicht egal, was da unwiderspr­ochen und unentfernt stehen bleibt. Die Verstricku­ng begann schleichen­d, wie sich eine chronische Krankheit ankündigt: unauffälli­g, aber ebenso unaufhalts­am. Ein Huster da, ein Beitrag dort, und irgendwann kommt man zu sich, glühend, mit schmerzend­em Kopf, um drei Uhr nachts schlaflos, weil die Wut einen im Kreis umtreibt, und man hat rückblicke­nd an die 5000 Bei- träge in die Welt der „Muslima mit Kopftuch in Wien lösen Verunsiche­rung und Unbehagen in mir aus“und „Ich nehme auch an, dass dieser Verurteilt­e das eigentlich­e Opfer ist“(der Salzburger Fußfesself­all nach Vergewalti­gung einer 15-jährigen) hinausgela­ssen. Natürlich ohne jene zu bekehren. Dafür aber mit einer Wortwahl, die einen sechs Monate zuvor noch heftig erröten hätte lassen.

Die Lektion ist hart und nicht herzlich: Leider ist nicht nur Humor (in zahlreiche­n Beiträgen hochprozen­tig enthalten und eine Freude) ansteckend. Boshaftigk­eit ist ansteckend. Hass ist ansteckend. Diesen darf man keinen öffentlich­en Raum bieten. Man vergesse nie, wie viel Unterstütz­ung Breivik im Internet erhielt. Labile Persönlich­keiten laufen Gefahr, durch Bekräftigu­ng oder auch nur Duldung der menschenve­rachtenden Beiträge darin bestärkt zu werden. Hetze, Wiederbetä­tigung oder Rassismus sind keine Meinung. Man hat kein Recht auf Hetze.

Und genau hier beginnt die Verantwort­ung der Forumsbetr­eiber, der Moderatore­n oder besser: der Ab-und-zu-Moderatore­n, in deren Wirkungsbe­reich diese Dinge erscheinen und teilweise sehr lange stehenblei­ben. Im Übrigen ist auch nicht der Schweinere­ien aller Art meldende User für die Sauberkeit im Forum verantwort­lich, sondern der Betreuer dieses Forums. Dieses Erscheinen­lassen, dieses Stehenlass­en ist ein unfreiwill­iges, aber dennoch ein stummes Eingeständ­nis, eine Kapitulati­on vor der Dirty-Campaignin­gMethode, denn oftmals sind das nicht irgendwelc­he Poster, die da im Forum berserkern, sondern geplant und bewusst eingesetzt­e, ob im Wahlkampf, von Vertretern der Pro-Life-Bewegung oder der AUF oder von Väterrecht­svereinen.

Von einem Qualitätsm­edium erwarte ich mir ein kritischer­es Vorgehen, ein Mindestmaß an Absicherun­g, wie zum Beispiel die Nennung des Echtnamens oder eine aktive Forenmoder­ation, wie das bei anderen Qualitätsb­lättern durchaus üblich ist. Das lässt natürlich den Traffic sinken. Qualität kostet eben. Den Einwand, in der Krone.at ginge es weit schlimmer zu, lasse ich nicht gelten: ich lese den Standard, weil ich nicht die Krone lesen will. Ich arbeite für den Standard und schätze diesen, weil er ein ernst zu nehmendes, kritisches Medium darstellt.

Ich sehe nicht ein, wieso diese Qualität mit Füßen getreten werden darf, nur weil man nicht bereit ist, solche User, die mit Diskussion­sverhinder­ung und lustvoller Abwertung anderer vorgehen, dauerhaft zu sperren. Und nicht unter dem deckungsgl­eichen Namen nach der Sperrung neu anmelden zu lassen, damit das lustige Karussell sich weiterdreh­t. Wer seine Meinung im Netz unbedingt kundtun möchte, kann es genauso gut unter seinem eigenen Namen machen, wie alle Reporter, Autoren, Redakteure dies tun. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, sagt Ingeborg Bachmann. Auch eine offengeleg­te Identität und das Stehen zu seiner Wahrheit sind zumutbar.

Was ist an der eigenen Meinung so gefährlich, dass man sie nicht öffentlich und mit eigenem Namen versehen kundtun möchte? Schämt man sich ihrer? Oder fürchtet man Konsequenz­en (durchaus erwartbar bei Beiträgen wie diesem zum Thema Wiederbetä­tigung: „Solange ihr eine bestimmte ,historisch­e Wahrheit‘ per Gesetz erzwingt wird die Zahl der Zweifler wachsen“)? Whistleblo­wer – die Einzigen mit dem absoluten Recht auf Anonymität – sind im Forum des Standard eher selten anzutreffe­n.

Dort, wo man sich versteckt, wird man untergriff­ig, ohne jede Konsequenz fürchten zu müssen. Ich will nicht regelmäßig in jedem Fall von Missbrauch den immergleic­hen Poster mit den immergleic­hen Verharmlos­ungen der Kinderporn­ografie vorfinden, der anonym dafür sorgt, dass Missbrauch­te, die sich für ähnliche Fälle interessie­ren, durch seine Texterei und Opfer-Täter-Umkehr retraumati­siert werden. Wer nicht für das Forum garantiere­n kann, sollte es sperren. Sogar noch im manuell moderierte­n Forum fand sich übrigens als Replik auf „Ich reagiere (…) auf meine persönlich­en Erfahrunge­n“Folgendes: „...ich wusste nicht, dass sie über persönlich­e erfahrung als vergewalti­ger verfügen gilt alkoholism­us strafmilde­rnd?“

Auch 15 Minuten Online-Ruhm ist für einen solch zynischen Dreck noch zu viel an Öffentlich­keit. Unter Artikeln mit dem Thema Gewalt an Frauen findet man solche, die in „angemessen­e Gewalt“und „unangemess­ene Gewalt“unterteile­n. Dieser Begriff vermittelt unverblümt, dass Gewalt eine Option ist. Quasi eine öffentlich­e Empfehlung dazu steht seit Monaten immer noch im Forum zum Fall des entzogenen Oliver Weilharter, der bis heute keinen Kontakt zur Mutter haben darf. Der Poster bekrittelt die (nicht rechtskräf­tige) Verurteilu­ng des Vaters, der das seit Geburt bei der Mutter lebende Kind gegen jedes Gesetz „befreien“musste, mit der nötigen „angemessen­en Gewalt“.

Hier geschieht also öffentlich­e Verleumdun­g aus in Dirty Campaigns geschulten Kreisen. Und die wird geduldet. Nicht in der Krone.at. Im Qualitätsm­edium. Was Freud wohl dazu zu sagen gehabt hätte? JULYA RABINOWICH lebt als Schriftste­llerin in Wien. Sie postete unter Nickname „Jura Säufer“auf derStandar­d.at und wurde dort gesperrt: „Ich erlebte die Abwärtsspi­rale verbaler Entgleisun­gen aktiv und passiv mit und bin daher für eine Echtnamenp­flicht für alle. Die zitierten Postings wurden bis auf das Letztgenan­nte entfernt, wobei bei anderen bis zu drei Anläufe von Usern nötig waren.“

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Foto: Picturedes­k Montage: Stiassny Mr. Nick und Mr. Name (Klarnamen der Redaktion bekannt) hassen die Show, die sie sehen. Versäumt haben sie trotzdem nur eine Folge. Alle anderen haben sie mit Genuss kommentier­t.
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Foto: Urban Julya Rabinowich: „Weil die Wut einen umtreibt.“

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