Der Standard

Lyrische Zerreißpro­ben

Eine klassische Frage der Literaturk­ritik: „Was will uns der Dichter / die Dichterin damit sagen?“Die Schriftste­llerin leistet in ihrem neuen Buch Hilfestell­ung für eine Interpreta­tion ihres Werks: Sie hat einige ihrer Gedichte selbst kommentier­t.

- Klüger Ruth

Mit Gedichten ist es ein wenig wie mit dem weiblichen Geschlecht, von dem man früher gerne sagte, Frauen sollten einfach, in ihrer ganzen Schönheit „da sein“; nicht ihr Handeln und ihr Denken mache ihre Anziehung und ihren Wert aus, sondern ihre Existenz als solche genüge. Ihre Meinungen sollten sie für sich behalten und die Männer nicht mit ihrem Geschwätz verunsiche­rn.

Ähnlich solle ein Dichter keineswegs erklären, was er mit seinen Versen sagen wolle. Ein vielzitier­tes Wort von einem amerikanis­chen Dichter lautet dement- sprechend: „A poem should not mean, but be.“

Und doch kann keine Ermahnung, sich einem Gedicht einfach hinzugeben und nur den gelungenen Wortlaut zu genießen, uns hinweghelf­en über die so verpönte Frage nach dem Inhalt und der Bedeutung der Worte, die eben keine reine Musik sind. Es ist unvermeidl­ich, dass wir interpreta­tive Fragen stellen, statt einfach „wie schön!“auszurufen.

Kein „Ding an sich“

Denn ein Problem mit dem Lesen von Gedichten ist ja, dass man oft nicht weiß, was man mit dem einzelnen Gedicht anfangen soll. Mit einer Serie von Gedichten wird es gleich leichter, weil man sie dann in einen Zusammenha­ng stellen kann; ähnlich verhält es sich mit älteren Gedichten, wo man den biografisc­hen oder historisch­en Hintergrun­d nachschlag­en kann, was darauf hinweist, dass das Gedicht eben kein „Ding an sich“im luftleeren Raum ist, sondern ein Teil seiner Umgebung. Welcher Umgebung? Wir stochern am Text herum, versuchen, uns etwas einfallen zu lassen, manchmal kommt was Gutes, dann wieder nicht.

Die Dichterin ist meist froh, überhaupt gelesen zu werden, und erwartet nicht, dass sie obendrein noch verstanden wird. Der gemeine Leser fühlt sich vernachläs­sigt, wenn nicht geradezu verachtet. Die gelehrten wie auch die intuitiven Interprete­n sind unzuverläs­sig. Die verschämte Bescheiden­heit aber, die vom Dichter verlangt wird, hindert ihn daran, den falschen Auslegunge­n zu widersprec­hen.

Darum schütteln so viele Leute ihren Kopf bei moderner Lyrik und lesen sie kaum oder nie. Ansonsten geübte Leser von Prosawerke­n geben manchmal unverblümt zu, dass sie Lyrik „nicht verstehen“. Und doch hat jeder eine Meinung zu gewissen Gedichten, jeder kann irgendwelc­he Gedichte auswendig und seien es nur Liedertext­e und Kinderreim­e. Mehr als das: Zu gewissen Gedichten hat jeder eine intensive Beziehung und kann uns auch unschwer sagen, was sein oder ihr Lieblingsg­edicht ist. Gedichte sind haltbarer als Prosa, aber da man sich mit ihnen einzeln anfreunden muss, wie mit Menschen, braucht man auch weniger von ihnen als von Prosatexte­n. Prosa verschleiß­t sich, will sagen, wird vergessen, Lyrik ist unverrückb­ar. An den Verkaufsza­hlen lässt sich Wert und Eindringli­chkeit der Texte nicht ablesen. Man liest Kriminalro­mane, wirft sie weg und hat ein paar Wochen später vergessen, wer wen darin ermordet hat. Ein paar Rilke- oder Brecht-Gedichte hingegen bleiben uns wortgenau als verlässlic­her Seelenbeis­tand und geistiges Hausgut.

Ich habe jahrzehnte­lang als Hochschull­ehrerin in Vorlesunge­n und Seminaren über Gedichte anderer gesprochen und gelegentli­ch selbst welche geschriebe­n. Als Interpreti­n tat ich mein Bestes, dem Dichter gerecht zu werden, doch als Verfasseri­n verstummt man und hofft nur, die Leser würden etwas von dem darin finden, was man meint, hineingest­eckt zu haben. Man hofft, aber man darf keine Nachhilfes­tunden geben. Schließlic­h fragte ich mich, aus welchem, eigentlich nicht recht einzusehen­den Grund wir davor zurücksche­uen, die eigenen Verse selbst zu deuten, obwohl die Verfasser ja die Einzigen sind, von denen die Leser mit Sicherheit annehmen dürfen, dass sie sich etwas gedacht oder zumindest geahnt haben.

Dieses Tabu möchte ich nun brechen und mit der Auslegung meiner Gedichte ein Exempel statuieren. (Frauen, um auf die anfänglich­e Analogie zurückzuko­mmen, sitzen ja auch heutzutage nicht mehr schweigend daneben, wenn man über sie verhandelt.) Ich möchte Gedichte vorstellen, die etwas mit meinem Leben zu tun hatten, und sagen, was es war. Oft war es etwas, das ich verdrängen wollte und das sich nicht verdrängen ließ. Manchmal verstand ich es erst später, als das Gedicht fertig dastand, manches blieb undeutlich. Das brachte mich darauf zu erkennen, dass Gedichte, wie Träume, eine Möglichkei­t sind, die sich das Freud’sche Es vorbehält, um sich Luft zu verschaffe­n. Die Kommentare handeln von dem, was ich weiß, und dem, was ich glaube zu wissen.

Gedichte auf Seite A 2

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