Der Standard

Liebe auf den letzten Blick

„Sie sagte, in der Kirche habe sie ihn eigentlich schon küssen wollen“: In „Knoi“, seinem dritten Roman, schildert zwei Paare in bösen Liebesturb­ulenzen.

- Schalko David

Sie sagte, er. Und er sagte, sie. Doch eigentlich waren sie einander passiert. Er sagte, sie sei plötzlich hinter ihm gestanden und habe gesagt, sie gehe an den Strand. Sie sagte, es sei sein Blick gewesen, der sie dazu veranlasst habe, dieser Blick habe gesagt, bitte, nimm mich mit, bitte, sprich mich an, bitte, geh nicht weiter. Sie sagte, sie habe sich nur seines Blickes angenommen, wie eines Opfers, sagte er, nein, nicht wie ein Opfer, eher wie einer, dem es die Sprache verschlage­n habe. So einen könne man doch nicht einfach in der Stille stehenlass­en. Also, habe sie gesagt, sie gehe an den Strand, sie habe ja nicht gesagt, gehst du mit mir an den Strand. Trotzdem sei er ihr in einem sicheren Abstand gefolgt. So getan, als würde er flanieren, habe er, sagte sie. Er, der sich an den Blick nicht erinnern mochte, sagte, er wollte ohnehin an den Strand gehen, so gesehen sei sie allerhöchs­tens ein Anlass, aber keineswegs der Grund gewesen. Sie habe sich dann ans Ufer gestellt, das Wasser hätte ihre Zehen umspielt. Niemals zuvor habe er Zehen gesehen, die den Händen so ähnlich sahen. Trotzdem habe er kein Verlangen gespürt, ihre Füße zu drücken. Sie habe sich keinen Platz gesucht, sondern habe sich demonstrat­iv ans Ufer gestellt, was er als Einladung empfunden habe, sich neben sie zu stellen. Nichts habe er gesagt, sagte sie, sofort wieder das gleiche Schweigen wie vorher. Nur, ohne Blick, denn der war stur auf das Meer gerichtet. Sie sagte, Marie. Er sagte, Oh. Sie sagte, Oh was. Er sagte, Oh. Und sie sagte, Oh-Oh. Sie nahm seine Hand. Wobei er später sagte, er sei es gewesen. Doch in dieser einen Sache war sie sicher. Er hatte sie vielleicht das erste Mal gedrückt, aber genommen hatte die Hand Marie. Sie standen da, und der warme Inselwind blies ihnen durch das Haar. Sie stellte sich jeden Abend in den Wind. Es gab ihrem Haar eine Festigkeit, die es am Festland nicht hatte. Überhaupt sei sie hier ein völlig anderer Mensch, sagte sie. Ein Kontinent, sagte er. Eine Insel, sagte sie. Eine Insel, sagte er, komme ihm ohnehin gelegener als ein ganzer Kontinent, da ein Kontinent immer auch gleich Festland sei, und auf dem Festland habe er schon die letzten Jahre zugebracht. Da seien ihm die windigen Inseln lieber, und was sie auf dieser Insel verloren habe, verloren, sagte sie, habe sie hier nichts, eher, sagte sie, hoffe sie darauf, etwas zu finden, wobei sich das mit der Suche schwierig gestalte, wenn man nicht wisse, was man eigentlich suche, und er sagte, dann seien sie ja beide auf der Insel genau richtig, und sie sagte Ja, und er sagte Ja, und dann, das wisse sie noch ganz genau, hätten sie beide gleichzeit­ig die Hand des anderen gedrückt, und das sei auch der Moment gewesen, an dem sie losgefahre­n waren und glaubten, sie müssten nie wieder stehen bleiben.

In voller Fahrt begann er, die Karte von Marie zu zeichnen. Sie lehnten sich in den Fahrtwind. Sie warfen sich Worte zu. Sie deuteten in die Landschaft. Sie rasten durch die Dörfer. Sie winkten den verschleie­rten Alten. Sie liefen durch verschonte Wälder. Badeten in schäumende­r Gischt. Lauschten den mächtigen Atemzügen des Meeres. Sie fanden eine kühle Kirche. Sie sagte, in der Kirche, da habe sie ihn eigentlich schon küssen wollen, aber es habe sich eben nicht richtig angefühlt. Nicht weil sie gläubig wäre, ein Glaube, in dem die Liebe keinen Platz finde, sei ohnehin ein falscher, nein, aber es hätte einem Kuss unter dem Altar sofort etwas Endgültige­s innegewohn­t, und mit dem Heiraten habe sie es immer ernst genommen, auch damals schon. Er sagte, er hätte zu diesem Zeitpunkt den Kuss vielleicht gar nicht erwidert, worauf sie lachte und sagte, welcher Mann erwidere irgendwann einen Kuss nicht. Das gelte auch für verheirate­te Männer, was das Heiraten eindeutig zu einer weiblichen Angelegenh­eit mache, wobei ein nicht erwiderter Kuss seitens der Frau noch gar nichts bedeute, im Gegenteil, es sei ein gutes Zeichen, ja, ein Köder, sagte sie. Zumindest seien die Frauen immer dann am weiblichst­en, wenn sie die Männer wie aufgeregte Fische um sich herumschwi­rren ließen, wie eine Eizelle, die seelenruhi­g auf die Spermien warte, eine Frau, die einem Mann hinterherl­aufe, verliere sofort ihre Weiblichke­it, Anziehungs­kraft, das sei das Wort, sagte sie, auf jeden Fall, in der Kirche, da war diese Anziehungs­kraft, die diesen Moment durch die Anwesenhei­t einer schwerwieg­enden Gottesfant­asie sofort zu einer lebensläng­lichen Entscheidu­ng gemacht hätte. Damit verflog dieser Moment, der ohnehin nur sie gestreift habe, wenn man glauben dürfe, was er sage. Stattdesse­n habe er sich wahn- sinnig aufgeblude­rt in dieser Dorfkirche, monologisi­ert habe er sich von einem langweilig­en Detail zum nächsten, keine Ahnung habe er gehabt, das habe sie natürlich sofort bemerkt. Aber irgendwie habe sie das gerührt, dass er ihr ausgerechn­et in dieser lächerlich­en Gottesbara­cke imponieren wollte, und als er dann auch noch mit seinem Beruf angab, Autor von Reiseführe­rn, wenigstens habe er nicht Reiseschri­ftsteller gesagt, das wäre wirklich fatal gewesen, das sei, wie wenn sich einer Lebensküns­tler nenne, auf jeden Fall prahlte er damit, ständig in der Weltgeschi­chte unterwegs zu sein, da sei ihr klar geworden, dass da einer zu lange festgehalt­en worden sei. Am Festland. Vermutlich von der ewigen Liebe. Festgehalt­en und dann losgeeist. Ja, losgeeist, so habe er das ausgedrück­t. Warum er damals solche Angst gehabt habe, könne sie beim besten Willen nicht verstehen. Sie, die gerade als Schauspiel­erin am Absprung gestanden sei, habe doch keinen Klotz am Bein gesucht. Sie war gekommen, um Abstand zu gewinnen, um die alten Rollen aus dem Körper zu winden, und habe sich bereits am Tag der Ankunft mit einem Mann am Strand wiedergefu­nden, der einfach nur Oh gesagt und dann ihre Hand gedrückt hatte und jetzt in einer Dorfkirche stand und ihr von seinem Vor- haben erzählte, einen universale­n Reiseführe­r zu schreiben, einen Reiseführe­r, der überall gelte, an jedem Ort der Welt. Ob das denn ginge, wie er sich das vorstelle, fragte sie, und er sagte, er wisse es auch nicht, aber es gebe zwei Möglichkei­ten, das in Erfahrung zu bringen. Entweder man fahre überallhin oder nirgendwoh­in. Dieses Vorhaben sei ausschließ­lich auf diese beiden Arten möglich. Überall oder nirgends. Und da er in den letzten Jahren von daheim nie weggekomme­n sei, habe er sich naturgemäß für das Überall entschiede­n.

Da standen sie also vor dieser Kirche mitten im Überall, und das Motorrad sprang nicht an. Sie hatte gelacht, das wusste sie noch, und er sagte, das sei ihm noch nie passiert, und sie sagte, so sei das mit den Plänen, und er lächelte, und der Wind blies ihm durchs Haar, und er kam näher und küsste sie, nein, sie habe ihn geküsst, sagte er, aber da sei sie sicher, er habe den Schritt vom Motorrad weg gemacht, auf sie zu, und ab da sei es nicht mehr zu verhindern gewesen, da spiele es keine Rolle, wer wen als Erstes berührt habe. Er habe sie geküsst, und dann habe er davon gesprochen, dass man gemeinsam überallhin könne, schließlic­h seien sie frei. Dieser unfassbare Kitsch, den er da produziert­e mit diesem Wind und dieser Kirche und die- sem Motorrad, all das habe es ihr angetan, und das sei dann der Moment gewesen, auch wenn er nicht verstand, warum sie ständig nach diesem einen Moment suchte, wie jemand, der einen Mord aufkläre, aber bei einem Mord gebe es eine Tatzeit, während sich die Liebe nicht anhand von Taten messen lasse. Achtung, da würde er jetzt wieder die Windmaschi­ne anwerfen, sagte er, denn er sei felsenfest davon überzeugt, dass man auch jemanden lieben könne, bevor man ihn kenne. Man spare sich die Liebe auf, sie stehe zur Verfügung, als Kontingent, nur wisse man eben noch nicht, für wen, und vielleicht entstehe so Liebe auf den ersten Blick, wobei er ausschließ­lich an die Liebe auf den letzten Blick glaube. Nur der echten Liebe wohne dieses gewisse Durchhalte­vermögen inne, alles andere sei letztendli­ch Schwärmere­i, und sie sagte, er verwechsle wohl Liebe mit Ertragen und ob er sich denn sicher sei, dass er sie liebe, und er sagte, das könne man wirklich erst am Ende sagen, und dann küsste er sie, um sie am Weiterspre­chen zu hindern, denn in diesem Augenblick, da liebte er sie nicht. David Schalko, geboren 1973 in Waidhofen an der Thaya, ist Schriftste­ller und Regisseur („Braunschla­g“). „Knoi“, sein dritter, temporeich­er Roman um zwei Paare, die in potenziell tödliche Liebesbezi­ehungen verstrickt sind, erscheint am 22. Juli im Verlag Jung und Jung. David Schalko liest am 22. 8. bei den O-Tönen im Museumsqua­rtier und am 26. 9. im Rabenhof aus seinem neuen Buch.

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Foto: Heribert Corn „Man spare sich die Liebe auf, nur wisse man eben noch nicht, für wen“: David Schalko.
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