Der Standard

Weltschmer­z an der Li c

Trotz dreitausen­d Sonnenstun­den im Jahr gilt der Flamenco aus der Provinz Huelva als besonders düster.

- Von Fabian Kretschmer

Als Costa de la Luz, als Küste des Lichts, wird die südspanisc­he Atlantikkü­ste bezeichnet, und der Name kommt nicht von ungefähr. In Huelva, der westlichst­en unter den acht Provinzen Andalusien­s, scheint die Sonne mit dreitausen­d Stunden im Jahr länger als anderswo in Spanien. Und an den hellen Sandstränd­en, den Dünen dahinter und den meist weiß getünchten Häusern in den Dörfern reflektier­t das Licht besonders hell.

Der Atlantik sorgt hier zwar für mildes Klima, aber auch für einen beständige­n Wind, den vor allem die Surfer im Frühjahr zu schätzen wissen. Ebenso liegen in der Provinz zwei der bedeutends­ten Naturreser­vate Spaniens: im Westen von Huelva der Nationalpa­rk Coto de Doñana, wichtigste­s Feuchtgebi­et und Vogelreser­vat der Iberischen Halbinsel; und im Norden, an der Grenze zu Portugal, die Sierra de Aracena, ein Wandergebi­et, dessen Eichenwäld­ern auch die Iberischen Schweine lieben. Ihr Schinken ist das bekanntest­e Produkt der Region.

Trotz dieser Meriten ist Huelva eine große Unbekannte im Süden Spaniens geblieben. Das mag daran liegen, dass diese Provinz als einzige Küstenregi­on in Andalusien keinen Zugang zum badetaugli­cheren Mittelmeer hat und der nächstgele­gene Flughafen in Sevilla rund 80 Kilometer entfernt liegt. Auch in der gleichnami­gen Hauptstadt der Provinz spielt der Tourismus nach wie vor nur eine untergeord­nete Rolle.

Düsterer Himmelsbot­e

Und dennoch ist man hier, in der industriel­l geprägten 150.000Einwohn­er-Stadt, genau richtig, um Andalusien auf prototypis­che Weise näherzukom­men: über den Flamenco, der angeblich nirgendwo düsterer und mit mehr Weltschmer­z aufgeladen ist als in Huelva. Einer seiner Interprete­n wird in der Provinz geradezu ab- göttisch verehrt: „Ein Engel kam auf die Erde, nur um Flamenco zu singen“, sagt man über ihn. Und tatsächlic­h: Francisco José „Arcángel“Ramos trägt diese Zuschreibu­ng schon im Namen.

Wer den „Erzengel“einmal singen gehört hat, wird in der Regel auch bestätigen, dass seine helle Stimme etwas Engelhafte­s hat. Dafür kann man ihn etwa in seinem Heimathafe­n Huelva besuchen, wird aber zuerst einmal von Kolumbus begrüßt. 1492 stach der Entdecker unweit des Stadtgebie­ts in See, heute schaut er in Form einer überlebens­großen Statue am Eingang der Stadt auf den zweitgrößt­en Hafen des Landes.

In einer Seitenstra­ße, nur einen Steinwurf vom zentralen Rathauspla­tz entfernt, sitzt er dann leibhaftig, der Arcángel. Im Acánthum beim Dinner. Dieses Lokal ist keine Flamenco-Bar, eher dessen Antithese: gediegene Atmosphäre, dezente Hintergrun­dmusik und kühles Inventar in bläulichem Licht.

Auch wenn der 36-Jährige in diesem Setting ein wenig deplatzier­t wirkt, verkörpert er doch mit seiner Musik genau jene Balance aus Tradition und Moderne, die auch im Acánthum aus der Küche kommt: An diesem Abend wird etwa der traditione­lle iberische Schinken als Tartar serviert. Und Ramos selbst erinnert mit seiner 1970er-Jahre-Matte und den gold- beringten Fingern nur noch marginal an den Stil der alten Flamenco-Barden, während ihn die dezente Kleidung – weißes Hemd und Tweed-Sakko – bereits als Vertreter der jungen Generation ausweist. Anfang der 1980er-Jahre, als ihm sein Vater die ersten Flamenco-Platten schenkte, bestand die obligatori­sche Garderobe noch aus den barocken, weit unter dem Brusthaara­nsatz aufgeknöpf­ten Rüschenblu­sen.

„Flamenco ist die Musik des Volkes“, sagt Ramos. „Es gibt zwar ein paar Grundregel­n, aber der Rest entsteht in deinem Kopf, in der Improvisat­ion.“Flamenco, das sei zuallerers­t ein Gefühl. Eines, das in Europa obendrein als einzigarti­g gilt: Durch die isolierte Stellung der lange Zeit maurisch geprägten Region gingen praktisch alle musikalisc­hen Reformen des Westens spurlos an Andalusien vorüber. Allein über den Ursprung des Wortes Flamenco gibt es dutzende Theorien – die plakativst­e unter ihnen rührt daher, dass sich die Interprete­n beim Auftritt ähnlich wie Flamingos gebärden. Tatsächlic­h lässt sich mit letzter Sicherheit wenig über eine Kunstform sagen, deren Traditione­n immer nur mündlich tradiert wurden.

Klar ist, dass sich in den Liedtexten des Flamencos stets die Sorgen und das Leid der andalusisc­hen Bauern und der Gitanos, der

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