Schöne andere Welt
„Der Komet“: Hannes Steins Alternativ-wienRoman zeigt am Ende k. u. k. Österreich-ungarn als Operette.
Was, wenn Hannibal die Römer geschlagen hätte, und zwar vernichtend? Wie hätte dann die Antike ausgesehen? Was, wenn die Südstaaten den Amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen hätten? Wie hätte der Zeiten Lauf ausgesehen, wenn Napoleon die Schlacht von Waterloo für sich entschieden hätte? Oder wenn die Bundesrepublik Deutschland von Honeckers DDR geschluckt worden wäre, und nicht umgekehrt? Was wäre, wenn: Das ist wohl die zweite große Frage der Fiktion, neben „Es war einmal“ein Kardinalanfang des Erzählens. Was wäre gewesen, wenn eigentlich sich anderes ereignet hätte, das sich nicht mit der faktischen Historie deckt? Alternativgeschichtsschreibung wird so etwas geheißen.
In den vergangenen Jahren haben namhafte Autoren solche Szenarien ausgesponnen. So ließ 2008 Christian Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Lenin in der Schweiz eine „Schweizer Sowjet Republik“gründen, weil Russland dummerweise von einer Explosion gründlich verheert wurde. Bei Michael Chabon ( Die Vereinigung jiddischer Polizisten, 2007) wird Alaska zur Heimstatt jüdischer Flüchtlinge, Philip Roth lässt in Verschwörung gegen Amerika (2005) den Antisemiten und Flieger Charles Lindbergh US-Präsident werden und Eric-Emmanuel Schmitt in Adolf H. Zwei Leben einen gewissen Hitler, Adolf von der Wiener Kunstakademie als Student aufnehmen.
Am vielleicht erfolgreichsten war vor 20 Jahren der Engländer Robert Harris mit Fatherland, das 1964 in Berlin spielt, nachdem die Nazis den Krieg gewonnen haben und auch über England herrschen (30 Jahre vor Harris ließ Philip K. Dick bereits die USA von NaziDeutschland und Japan schlagen und gouvernemental unter sich aufteilen).
Der in Brooklyn, New York, lebende Kulturkorrespondent mehrerer deutscher Zeitungen Hannes Stein, 1964 in München geboren, in Salzburg aufgewachsen, in Hamburg erst zum Anglisten, dann zum Journalisten ausgebil- det, wendet dieses Prinzip nun auf Österreich an. Vor dem zweiten, erfolgreichen Attentat am 28. Juni 1914 entschließt sich Erzherzog Franz Ferdinand abzureisen: „I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus!“Kein Erster Weltkrieg, kein Völkerabschlachten, kein Zerfall Österreich-Ungarns, kein Aufstieg der Nationalsozialisten, kein Zweiter Weltkrieg, Hitler kommt nie über den Status eines erfolglosen Postkartenmalers hinaus, Lenin stirbt als verhinderter Revolutionär und verbitterter Journalist in Zürich, Lew Bronstein alias Leo Trotzki bleibt in Wien und schreibt in den Zwanzigerjahren Science-Fiction-Romane.
Es ist das Jahr 2000, seit einem Jahrhundert herrscht augusteischer Friede. Österreich-Ungarn ist unverändert Kaiserreich und reicht vom Bodensee bis Galizien, ohnehin gibt es in Europa nur drei Republiken: Frankreich, Schweiz und San Marino. Die USA sind ein Hinterwäldlerstaat, da es auch keine Wissenschafts- und Kunstemigration gegeben hat – das wichtigste Filmatelier der Welt sind die Wiener Rosenhügel-Studios, das beliebteste Getränk nicht Coca-Cola, sondern Almdudler, globale Wissenschaftssprache ist Deutsch.
Das Stein’sche Wien, 3,4 Millionen Köpfe zählend, ist stark jüdisch geprägt, schließlich gab es auch keine Shoah. Doch ein Komet bedroht die Erde, woraufhin der k. u. k. Hofastronom David „Dudu“Gottlieb zum Mond, eine deutsche Kolonie, auf dem sich Albert Einsteins Grab befindet, entsandt wird, um Genaueres festzustellen und eine Prognose der sich anbahnenden Katastrophe zu erstellen.
Währenddessen verliebt sich seine Frau Barbara in den Kunstgeschichtsstudenten Alexej von Repin, Enkel des russischen Malers Ilja von Repin, und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihm, die ihr Ende nimmt mit der fatalen Kollision. Doch das Finale dieses an Pointen fast überreich munitionierten operettenhaften Romans, in dem Anne Frank als nervende Literaturnobelpreisträgerin aufscheint, mündet in: Operette. Und – im September 2001! – mit dem Ausruf „Allahu akbar“.
So reizend diese an nicht wenigen Stellen sprachlich eher gering ausgefeilte Historienpersiflage einsetzt, die marmoriert ist von zahlreichen kabarettistischen Einfällen, Anspielungen und Verfremdungen, so ermüdet doch zusehends diese vom Verlag reichlich waghalsig als „Roman“annoncierte Prosa. Denn wofür sich Stein nur am Rande interessiert, ist ein Plot. Vor lauter pittoresken Schmunzeldetails vergisst er in einem bewusst gegen Ende immer altväterlicher werdenden Stil, dass es in einem Roman auch um Handlung gehen kann, um Charaktere, Charakterentwicklung und ein Schildern einer berichtenswerten, gar komplexen Handlung.
Es hat den Anschein, als habe sich Stein, der kluge Journalist und Autor bemerkenswert erfolgreicher humoristischer Bücher übers Auswandern, Nichtdenken und Rechthaben, sich hier zu sehr vom ersten Anflug einer brillanten Idee blenden lassen. Einer überzeugenden Komposition hat er sich entschlagen. Oder besaß er dafür nicht die erzählerische Kraft? Am Ende findet man für das Ganze ein eher ungalantes Wort: unerheblich. Oder um im Duktus der Stein’schen Prosa zu bleiben: nebbich. Hannes Stein, „Der Komet. Roman“. € 19,60 / 272 Seiten. Galiani, Berlin 2013