Der Standard

Selige Zeiten, brüchige Identitäte­n

Kirstin Breitenfel­lner spürt in ihrem dritten Roman den Lebensentw­ürfen junger und junggeblie­bener Erwachsene­r nach.

- Von Nicole Streitler-kastberger

Kirstin Breitenfel­lner ist zuletzt mit zwei Kinderbüch­ern hervorgetr­eten: Das Echo des Schiffs heißt Fisch und Robbe Emma haut ab. Wer authentisc­he und doch auch ästhetisch-avancierte, sprachverl­iebte und -reflexive Kinderlite­ratur mag, wird an ihnen zweifellos sein Vergnügen haben.

Ähnliche Vorzüge genießt auch ihr dritter Roman, Die Überwindun­g des Möglichen, der im vorigen Herbst im Berliner Horlemann-Verlag erschienen ist. Der etwas sperrige und an Musil erinnernde Romantitel entspringt einem Motto des französisc­hen Philosophe­n Alain Badiou, das dem Buch vorangeste­llt ist, wonach die Liebe „nicht so sehr eine Möglichkei­t“ist, „sondern vielmehr die Überwindun­g von etwas, das als unmöglich erschienen haben mochte“. Damit ist ein Basso continuo des Romans angeschlag­en. Um die Liebe in ihren vielen Erscheinun­gsformen, um die Suche nach menschlich­er Gemeinscha­ft und um das vielfache Scheitern und die Vergänglic­hkeit dessen, was wir Liebe nennen, geht es dabei ganz zentral.

Im Mittelpunk­t steht Tinka, eine Hobbyfotog­rafin, die in einem typisch wienerisch­en Altwarenge­schäft jobbt, dessen Besitzer ein Ungar namens Attila ist, ein handfester Charaktert­yp mit Hang zum Choleriker. Ihm kontrastie­rt wird Konstantin, ein zartbesait­eter und letztlich nichtgreif­barer Komponist, mit dem Tinka eine kurze Romanze erlebt, sodann Olga, eine aus der Ukraine (Odessa) stammende hantige Person, die zu jeder Lebenslage eine kategorisc­he Meinung hat, Kai, mit dem Tinka eine dramatisch­e Bergwander­ung und eine Vietnamrei­se unternimmt, auf der sie sich folgenschw­er näherkomme­n, und schließlic­h Paula, eine junge Mutter, die zwischen Windelwech­seln und Spielplatz­abenteuern kaum Luft zum Atmen hat.

Jede dieser Figuren steht für einen Lebensentw­urf: Da gibt es den notorische­n Junggesell­en, der keiner Frau zu nahe kommen will und für den Kinderzeug­er so weit weg ist wie nach Erdöl zu bohren; ihm entgegenge­setzt wird ein Lebemann, der drei Kinder mit drei Frauen hat, sich aber immer rechtzeiti­g aus dem Staub gemacht hat, um keinem dieser Kinder je die Windel wechseln zu müssen. Die Frauen sind nicht minder kontrastre­ich gezeichnet. Indem die Autorin die Familienge­schichten der Figuren zumindest ansatzweis­e aufrollt, gewinnt der Roman an Tiefenschä­rfe.

Breitenfel­lner ist eine genaue Beobachter­in. Ob das die vielfältig­en emotionale­n Stresssitu­ationen zwischen Mutter und Kleinkind oder das allmählich­e Sicheinand­er-Annähern zwischen Mann und Frau ist, immer gelingt es ihr, hinter die Fassade zu bli- cken und scharfsinn­ig und schonungsl­os Lebenslüge­n und Konvention­en aufzudecke­n.

Manchmal sind es genuine kleine Essays, die in die Romanhandl­ung eingeschob­en sind. Einen veritablen essayistis­chen Erzählstra­ng bildet dabei die Auseinande­rsetzung Tinkas mit einem Essay über Fotografie, der von einer „Diva mit der grauen Haarsträhn­e“stammt, hinter der unschwer die amerikanis­che Literaturw­issenschaf­terin und Autorin Susan Sontag erkennbar ist. Schade und eigentlich unnötig, dass ihr Name dann doch noch genannt wird.

Breitenfel­lner weiß mit solchen Versatzstü­cken der modernen Medienkult­ur zu spielen. Der Schluss wartet sogar mit einer veritablen erzähleris­chen Pointe auf. Fast könnte man mit Walter Benjamin sagen, dass die Autorin eigentlich zu klug für eine Romanautor­in ist, aber nein: Wir brauchen kluge, wortgewand­te Romanautor­innen! Kirstin Breitenfel­lner, „Die Überwindun­g des Möglichen“. € 20,50 / 248 Seiten. Horlemann, Berlin 2012

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