Selige Zeiten, brüchige Identitäten
Kirstin Breitenfellner spürt in ihrem dritten Roman den Lebensentwürfen junger und junggebliebener Erwachsener nach.
Kirstin Breitenfellner ist zuletzt mit zwei Kinderbüchern hervorgetreten: Das Echo des Schiffs heißt Fisch und Robbe Emma haut ab. Wer authentische und doch auch ästhetisch-avancierte, sprachverliebte und -reflexive Kinderliteratur mag, wird an ihnen zweifellos sein Vergnügen haben.
Ähnliche Vorzüge genießt auch ihr dritter Roman, Die Überwindung des Möglichen, der im vorigen Herbst im Berliner Horlemann-Verlag erschienen ist. Der etwas sperrige und an Musil erinnernde Romantitel entspringt einem Motto des französischen Philosophen Alain Badiou, das dem Buch vorangestellt ist, wonach die Liebe „nicht so sehr eine Möglichkeit“ist, „sondern vielmehr die Überwindung von etwas, das als unmöglich erschienen haben mochte“. Damit ist ein Basso continuo des Romans angeschlagen. Um die Liebe in ihren vielen Erscheinungsformen, um die Suche nach menschlicher Gemeinschaft und um das vielfache Scheitern und die Vergänglichkeit dessen, was wir Liebe nennen, geht es dabei ganz zentral.
Im Mittelpunkt steht Tinka, eine Hobbyfotografin, die in einem typisch wienerischen Altwarengeschäft jobbt, dessen Besitzer ein Ungar namens Attila ist, ein handfester Charaktertyp mit Hang zum Choleriker. Ihm kontrastiert wird Konstantin, ein zartbesaiteter und letztlich nichtgreifbarer Komponist, mit dem Tinka eine kurze Romanze erlebt, sodann Olga, eine aus der Ukraine (Odessa) stammende hantige Person, die zu jeder Lebenslage eine kategorische Meinung hat, Kai, mit dem Tinka eine dramatische Bergwanderung und eine Vietnamreise unternimmt, auf der sie sich folgenschwer näherkommen, und schließlich Paula, eine junge Mutter, die zwischen Windelwechseln und Spielplatzabenteuern kaum Luft zum Atmen hat.
Jede dieser Figuren steht für einen Lebensentwurf: Da gibt es den notorischen Junggesellen, der keiner Frau zu nahe kommen will und für den Kinderzeuger so weit weg ist wie nach Erdöl zu bohren; ihm entgegengesetzt wird ein Lebemann, der drei Kinder mit drei Frauen hat, sich aber immer rechtzeitig aus dem Staub gemacht hat, um keinem dieser Kinder je die Windel wechseln zu müssen. Die Frauen sind nicht minder kontrastreich gezeichnet. Indem die Autorin die Familiengeschichten der Figuren zumindest ansatzweise aufrollt, gewinnt der Roman an Tiefenschärfe.
Breitenfellner ist eine genaue Beobachterin. Ob das die vielfältigen emotionalen Stresssituationen zwischen Mutter und Kleinkind oder das allmähliche Sicheinander-Annähern zwischen Mann und Frau ist, immer gelingt es ihr, hinter die Fassade zu bli- cken und scharfsinnig und schonungslos Lebenslügen und Konventionen aufzudecken.
Manchmal sind es genuine kleine Essays, die in die Romanhandlung eingeschoben sind. Einen veritablen essayistischen Erzählstrang bildet dabei die Auseinandersetzung Tinkas mit einem Essay über Fotografie, der von einer „Diva mit der grauen Haarsträhne“stammt, hinter der unschwer die amerikanische Literaturwissenschafterin und Autorin Susan Sontag erkennbar ist. Schade und eigentlich unnötig, dass ihr Name dann doch noch genannt wird.
Breitenfellner weiß mit solchen Versatzstücken der modernen Medienkultur zu spielen. Der Schluss wartet sogar mit einer veritablen erzählerischen Pointe auf. Fast könnte man mit Walter Benjamin sagen, dass die Autorin eigentlich zu klug für eine Romanautorin ist, aber nein: Wir brauchen kluge, wortgewandte Romanautorinnen! Kirstin Breitenfellner, „Die Überwindung des Möglichen“. € 20,50 / 248 Seiten. Horlemann, Berlin 2012