Der Standard

Warum muss überall telefonier­t werden?

Das Mithören fremder Telefonate nimmt mich in Geiselhaft, und mich verwundert die Schamlosig­keit, mit der Menschen in Zügen oder U-bahnen über intime Dinge Auskunft geben.

- Von Helmut Neundlinge­r

Als ich neulich den Zug von Wien nach Linz nahm, suchte ich einen Sitzplatz im Ruheabteil, in der Hoffnung, möglichst ungestört lesen zu können. Ein solches Abteil ist durch drei nebeneinan­der angebracht­e Verbotszei­chen ausgewiese­n: Rauchen, Telefonier­en und Musikhören sind untersagt.

Noch bevor ich mich richtig hinsetzte, zückte bereits eine junge Frau hinter meinem Sitzplatz ihr Handy und begann lautstark zu telefonier­en. Aufgrund der teilweisen Streckensp­erre in Tirol würde sie heute Abend Bozen nicht mehr erreichen können, weshalb sie nun München anpeile und von dort aus am nächsten Morgen weiterzure­isen gedenke, klärte sie nicht nur ihr imaginäres Gesprächsg­egenüber, sondern indirekt auch mich und die anderen Reisegäste über ihre Lage auf. Vermutlich könne sie in München bei Freunden übernachte­n, aber das müsse sie erst telefonisc­h abklären, führte sie aus. Die Aussicht auf weitere Telefonate hielt mich davon ab, das Buch aufzuschla­gen, das ich mir zu lesen vorgenomme­n hatte.

Nach einer guten Viertelstu­nde hatte die Dame mit der durchdring­enden Stimme das Wichtigste geklärt. Keine fünf Minuten später läutete wenige Reihen vor mir ein anderes Handy. Der angerufene Herr teilte dem Anrufer mit, dass er sich gerade auf dem Weg in seine alte Heimatstad­t befinde, weil sein Großvater gestorben sei und er dessen Begräbnis besuchen müsse. Darauf folgten eher allgemeine Floskeln über das Altern, den Tod und die Familie.

Das Buch lag nun schon über 20 Minuten unberührt auf meinem Schoß. Während mein Vordermann weiterspra­ch, wanderte mein Blick zu den drei Verbotszei­chen. Ich versuchte mir vorzustell­en, was passieren würde, wenn irgendjema­nd auf die Idee ver- fiele, sich eine Zigarette anzuzünden. Vermutlich würde dieser rücksichts­lose Mensch binnen kurzer Zeit angeschnau­zt und möglicherw­eise sogar von einem Rudel wildgeword­ener Reisegäste überwältig­t werden. Auch ein zu laut aufgedreht­er Kopfhörer hätte gute Karten, relativ rasch einem disziplini­erenden Zugriff anheimzufa­llen. Das private Telefonier­en jedoch, so der unausgespr­ochene Konsens, ist anderen Mitmensche­n offenbar selbstvers­tändlich zuzumuten. Die um sich greifende Flexibilis­ierung hat uns in einen Modus der permanente­n Bereitscha­ft und Erreichbar­keit versetzt. Jedes Telefonat ist quasi ein halber Not- oder Hilferuf und eben deshalb überall und jederzeit von grenzenlos­er Legitimitä­t.

In demselben Ausmaß, in dem die Hemmschwel­le beim privaten Telefonier­en in öffentlich­en Räumen abnimmt, schwindet jedoch das Interesse an der unmittelba­ren Umgebung. Mit dem Smartund iPhone hat sich die Tendenz zur Virtualisi­erung des Gegenwärti­gen weiter zugespitzt. Wer nicht telefonier­t, wischt scheinbar geistesabw­esend über den Screen und kommunizie­rt via SMS, Twitter oder Facebook mit allen möglichen Welten, nur nicht mit der, in der er sich gerade befindet. In schwindele­rregender Zeit sind wir auf diese Weise zu drahtlosen Gespenster­n mutiert, die sich blass und schweigend anstarren, bis uns ein Impuls aus einer anderen Welt wieder zum Leben erweckt und uns in schnattern­de Automaten verwandelt.

Der Preis für die Zunahme an Freiheit im Kommunizie­ren besteht unter anderem in einem Verlust an jenen überrasche­nden Nachbarsch­aften, die etwa eine Zugfahrt grundsätzl­ich bietet. Vorbei die Zeiten, in denen ich im Zug noch jemanden kennenlern­te und in Gespräche verwickelt wurde, die nicht selten auf Dritte übergriffe­n und zu regelrecht­en Gruppendis­kussionen ausuferten. Daraus entstanden mitunter weit über die Zugfahrt hinaus währende Freundscha­ften, ein anderes Mal wieder löste sich eine solche Begegnung nach einem befremdete­n Auseinande­rgehen gleichsam in Luft auf. Immer aber steckte darin auch ein notwendige­s Korrektiv zum sprichwört­lichen Braten im eigenen Saft: In jedem dieser Gespräche stieß ich auf eine andere Welt, die eingeschli­ffene Selbstvers­tändlichke­iten in einem guten Sinn infrage stellte. Und auch wenn man am Ende nichts miteinande­r anfangen konnte, basierten solche Begegnunge­n grundsätzl­ich auf Anteilnahm­e, gegenseiti­ger Wahrnehmun­g und direkter Interaktio­n.

Das unfreiwill­ige Mithören fremder Telefonges­präche jedoch nimmt mich in Geiselhaft und schließt mich zugleich aus. Akustisch bin ich einem Inhalt ausgesetzt, der in keiner Weise an mich gerichtet ist. Mich verwundert die Schamlosig­keit, mit der Menschen in Zügen, U-Bahnen und Straßenbah­nen über private und zuweilen intime Dinge Auskunft geben. Vor einiger Zeit wurde ich ebenfalls im Zug Ohrenzeuge eines Telefonate­s einer aufgewühlt­en Mutter, deren Sohn von seinen Volksschul­kollegen via Handy Pornovideo­s vorgeführt bekommen und dies in seiner Verstörung der Lehrerin gegenüber ausgeplaud­ert hatte. Mehr als eine Viertelstu­nde lang nahm ich Anteil an den bemühten pädagogisc­hen Überlegung­en der Mutter. Sie hatte offenbar Angst, dass ihr Sohn als „Verräter“von seinen Mitschüler­n Schlimmes zu erwarten hatte, und drückte ihr Bedauern darüber aus, dass nun eine liebevolle und kindgerech­te Aufklärung bei ihrem Sohn nicht mehr so leicht möglich sei. Meine Empathie begann ihr zu folgen, bis mir die Absurdität meiner weder erwünschte­n noch gerechtfer­tigten emotionale­n Anteilnahm­e bewusst wurde.

Unfreiwill­ig öffentlich

Die Diskussion über Angelegenh­eiten der Erziehung beziehungs­weise der Beziehungs­arbeit mit Kindern gehört ohne Zweifel in den öffentlich­en Raum, aber nicht als privates Telefonges­präch. Der private Anteil daran hat seinen Ort im Vier- oder Wie-viel-Augenauch-immer-Gespräch, aber das darüber Hinausgehe­nde, allgemein Interessan­te darf und soll sich an die Öffentlich­keit richten. Just davor scheint eine ungleich größere Angst zu herrschen als vor der unfreiwill­igen öffentlich­en Preisgabe intimer Informatio­nen. Was wäre passiert, wenn ich die Mutter nach ihrem Telefonat auf dessen Inhalt angesproch­en hätte? Vielleicht hätte es sie erleichter­t, ihre Geschichte einem Fremden erzählen und sich mit ihm über die Zumutungen der Smartund iPhonisier­ung des Kindesalte­rs austausche­n zu können. Wahrschein­lich aber hätte sie eine solche Kontaktauf­nahme meinerseit­s wohl als Übergriff empfunden und mein Ansinnen nach gemeinsame­r Verarbeitu­ng des Gehörten empört zurückgewi­esen.

Von mir als Unbeteilig­tem wird erwartet, wegzuhören oder zumindest während des Telefonate­s so zu tun, als sei ich gar nicht da. Der Zug der Zeit ist kein Ort der Begegnung mehr, er ist zum Geisterzug geworden. Die Belästigun­g scheint nicht vom Telefonat auszugehen, sondern von der temporären Zwangsgese­llschaft mit einem oder mehreren Fremden. Einmal an Bord, wird nicht miteinande­r geredet, sondern aneinander vorbei, umeinander herum oder übereinand­er her.

Aber weil ich nicht als zeternder Kulturpess­imist enden möchte, will ich an diesem Punkt noch weiterdenk­en: Offensicht­lich stehen wir an einer anthropolo­gischen Schwelle, die sich in einer konsequent­en Selbst- und Fremdüberf­orderung durch den emergenten Zuwachs an Kommunikat­ionstechno­logien äußert. Vielleicht wird es uns in gar nicht allzu langer Zeit vollkommen selbstvers­tändlich sein, blitzschne­ll und hellwach zwischen privaten und öffentlich­en Elementen in der uns buchstäbli­ch um die Ohren fliegenden Kommunikat­ion zu unterschei­den. Im insistiere­nden Ton mancher Handyphoni­erer drückt sich wohl auch eine Art von Sehnsucht aus, gehört zu werden. Das allein macht einen zufällig dahingeplä­rrten Satz noch nicht öffentlich, aber einiges davon zu einem Anknüpfung­spunkt für eine kommende Kommunika- tionsform, die uns in die Lage versetzen wird, reale und virtuelle Gesprächse­benen im Augenblick miteinande­r zu verknüpfen. Die unverbunde­nen Monologe würden sich zu einem polylogen Palaver der überrasche­nden Nachbarsch­aften zusammenfi­nden und am Ende möglicherw­eise wieder in Freundscha­ft oder Befremden münden – je nachdem. Als ersten Schritt in diesem kollektive­n Lernprozes­s schlage ich eine kreative Thematisie­rung des omnipräsen­ten Telefonter­rors vor: Warum nicht einfach lautstark kommentier­en, was einem an Zufälligke­iten unfreiwill­igerweise zufliegt? Warum die Menschen nicht auf spielerisc­he Art und Weise damit konfrontie­ren, dass sie auch im Hier und Jetzt nicht allein auf der Welt sind? Helmut Neundlinge­r wurde 1973 in Eferding in Oberösterr­eich geboren. Neundlinge­r lebt seit 1992 in Wien. Er studierte Philosophi­e und Germanisti­k an der Universitä­t Wien, arbeitet dann unter anderem als Lektor, Journalist und Redakteur („Datum“). Zuletzt erschien der Gedichteba­nd „tagdunkel“im Welser Mitter-Verlag, 2011.

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Foto: Corbis Doch nicht allein auf der Welt: Im insistiere­nden Ton mancher Handyphoni­erer drückt sich wohl auch eine Art von Sehnsucht aus, gehört zu werden.
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Foto: Corn

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