Warum muss überall telefoniert werden?
Das Mithören fremder Telefonate nimmt mich in Geiselhaft, und mich verwundert die Schamlosigkeit, mit der Menschen in Zügen oder U-bahnen über intime Dinge Auskunft geben.
Als ich neulich den Zug von Wien nach Linz nahm, suchte ich einen Sitzplatz im Ruheabteil, in der Hoffnung, möglichst ungestört lesen zu können. Ein solches Abteil ist durch drei nebeneinander angebrachte Verbotszeichen ausgewiesen: Rauchen, Telefonieren und Musikhören sind untersagt.
Noch bevor ich mich richtig hinsetzte, zückte bereits eine junge Frau hinter meinem Sitzplatz ihr Handy und begann lautstark zu telefonieren. Aufgrund der teilweisen Streckensperre in Tirol würde sie heute Abend Bozen nicht mehr erreichen können, weshalb sie nun München anpeile und von dort aus am nächsten Morgen weiterzureisen gedenke, klärte sie nicht nur ihr imaginäres Gesprächsgegenüber, sondern indirekt auch mich und die anderen Reisegäste über ihre Lage auf. Vermutlich könne sie in München bei Freunden übernachten, aber das müsse sie erst telefonisch abklären, führte sie aus. Die Aussicht auf weitere Telefonate hielt mich davon ab, das Buch aufzuschlagen, das ich mir zu lesen vorgenommen hatte.
Nach einer guten Viertelstunde hatte die Dame mit der durchdringenden Stimme das Wichtigste geklärt. Keine fünf Minuten später läutete wenige Reihen vor mir ein anderes Handy. Der angerufene Herr teilte dem Anrufer mit, dass er sich gerade auf dem Weg in seine alte Heimatstadt befinde, weil sein Großvater gestorben sei und er dessen Begräbnis besuchen müsse. Darauf folgten eher allgemeine Floskeln über das Altern, den Tod und die Familie.
Das Buch lag nun schon über 20 Minuten unberührt auf meinem Schoß. Während mein Vordermann weitersprach, wanderte mein Blick zu den drei Verbotszeichen. Ich versuchte mir vorzustellen, was passieren würde, wenn irgendjemand auf die Idee ver- fiele, sich eine Zigarette anzuzünden. Vermutlich würde dieser rücksichtslose Mensch binnen kurzer Zeit angeschnauzt und möglicherweise sogar von einem Rudel wildgewordener Reisegäste überwältigt werden. Auch ein zu laut aufgedrehter Kopfhörer hätte gute Karten, relativ rasch einem disziplinierenden Zugriff anheimzufallen. Das private Telefonieren jedoch, so der unausgesprochene Konsens, ist anderen Mitmenschen offenbar selbstverständlich zuzumuten. Die um sich greifende Flexibilisierung hat uns in einen Modus der permanenten Bereitschaft und Erreichbarkeit versetzt. Jedes Telefonat ist quasi ein halber Not- oder Hilferuf und eben deshalb überall und jederzeit von grenzenloser Legitimität.
In demselben Ausmaß, in dem die Hemmschwelle beim privaten Telefonieren in öffentlichen Räumen abnimmt, schwindet jedoch das Interesse an der unmittelbaren Umgebung. Mit dem Smartund iPhone hat sich die Tendenz zur Virtualisierung des Gegenwärtigen weiter zugespitzt. Wer nicht telefoniert, wischt scheinbar geistesabwesend über den Screen und kommuniziert via SMS, Twitter oder Facebook mit allen möglichen Welten, nur nicht mit der, in der er sich gerade befindet. In schwindelerregender Zeit sind wir auf diese Weise zu drahtlosen Gespenstern mutiert, die sich blass und schweigend anstarren, bis uns ein Impuls aus einer anderen Welt wieder zum Leben erweckt und uns in schnatternde Automaten verwandelt.
Der Preis für die Zunahme an Freiheit im Kommunizieren besteht unter anderem in einem Verlust an jenen überraschenden Nachbarschaften, die etwa eine Zugfahrt grundsätzlich bietet. Vorbei die Zeiten, in denen ich im Zug noch jemanden kennenlernte und in Gespräche verwickelt wurde, die nicht selten auf Dritte übergriffen und zu regelrechten Gruppendiskussionen ausuferten. Daraus entstanden mitunter weit über die Zugfahrt hinaus währende Freundschaften, ein anderes Mal wieder löste sich eine solche Begegnung nach einem befremdeten Auseinandergehen gleichsam in Luft auf. Immer aber steckte darin auch ein notwendiges Korrektiv zum sprichwörtlichen Braten im eigenen Saft: In jedem dieser Gespräche stieß ich auf eine andere Welt, die eingeschliffene Selbstverständlichkeiten in einem guten Sinn infrage stellte. Und auch wenn man am Ende nichts miteinander anfangen konnte, basierten solche Begegnungen grundsätzlich auf Anteilnahme, gegenseitiger Wahrnehmung und direkter Interaktion.
Das unfreiwillige Mithören fremder Telefongespräche jedoch nimmt mich in Geiselhaft und schließt mich zugleich aus. Akustisch bin ich einem Inhalt ausgesetzt, der in keiner Weise an mich gerichtet ist. Mich verwundert die Schamlosigkeit, mit der Menschen in Zügen, U-Bahnen und Straßenbahnen über private und zuweilen intime Dinge Auskunft geben. Vor einiger Zeit wurde ich ebenfalls im Zug Ohrenzeuge eines Telefonates einer aufgewühlten Mutter, deren Sohn von seinen Volksschulkollegen via Handy Pornovideos vorgeführt bekommen und dies in seiner Verstörung der Lehrerin gegenüber ausgeplaudert hatte. Mehr als eine Viertelstunde lang nahm ich Anteil an den bemühten pädagogischen Überlegungen der Mutter. Sie hatte offenbar Angst, dass ihr Sohn als „Verräter“von seinen Mitschülern Schlimmes zu erwarten hatte, und drückte ihr Bedauern darüber aus, dass nun eine liebevolle und kindgerechte Aufklärung bei ihrem Sohn nicht mehr so leicht möglich sei. Meine Empathie begann ihr zu folgen, bis mir die Absurdität meiner weder erwünschten noch gerechtfertigten emotionalen Anteilnahme bewusst wurde.
Unfreiwillig öffentlich
Die Diskussion über Angelegenheiten der Erziehung beziehungsweise der Beziehungsarbeit mit Kindern gehört ohne Zweifel in den öffentlichen Raum, aber nicht als privates Telefongespräch. Der private Anteil daran hat seinen Ort im Vier- oder Wie-viel-Augenauch-immer-Gespräch, aber das darüber Hinausgehende, allgemein Interessante darf und soll sich an die Öffentlichkeit richten. Just davor scheint eine ungleich größere Angst zu herrschen als vor der unfreiwilligen öffentlichen Preisgabe intimer Informationen. Was wäre passiert, wenn ich die Mutter nach ihrem Telefonat auf dessen Inhalt angesprochen hätte? Vielleicht hätte es sie erleichtert, ihre Geschichte einem Fremden erzählen und sich mit ihm über die Zumutungen der Smartund iPhonisierung des Kindesalters austauschen zu können. Wahrscheinlich aber hätte sie eine solche Kontaktaufnahme meinerseits wohl als Übergriff empfunden und mein Ansinnen nach gemeinsamer Verarbeitung des Gehörten empört zurückgewiesen.
Von mir als Unbeteiligtem wird erwartet, wegzuhören oder zumindest während des Telefonates so zu tun, als sei ich gar nicht da. Der Zug der Zeit ist kein Ort der Begegnung mehr, er ist zum Geisterzug geworden. Die Belästigung scheint nicht vom Telefonat auszugehen, sondern von der temporären Zwangsgesellschaft mit einem oder mehreren Fremden. Einmal an Bord, wird nicht miteinander geredet, sondern aneinander vorbei, umeinander herum oder übereinander her.
Aber weil ich nicht als zeternder Kulturpessimist enden möchte, will ich an diesem Punkt noch weiterdenken: Offensichtlich stehen wir an einer anthropologischen Schwelle, die sich in einer konsequenten Selbst- und Fremdüberforderung durch den emergenten Zuwachs an Kommunikationstechnologien äußert. Vielleicht wird es uns in gar nicht allzu langer Zeit vollkommen selbstverständlich sein, blitzschnell und hellwach zwischen privaten und öffentlichen Elementen in der uns buchstäblich um die Ohren fliegenden Kommunikation zu unterscheiden. Im insistierenden Ton mancher Handyphonierer drückt sich wohl auch eine Art von Sehnsucht aus, gehört zu werden. Das allein macht einen zufällig dahingeplärrten Satz noch nicht öffentlich, aber einiges davon zu einem Anknüpfungspunkt für eine kommende Kommunika- tionsform, die uns in die Lage versetzen wird, reale und virtuelle Gesprächsebenen im Augenblick miteinander zu verknüpfen. Die unverbundenen Monologe würden sich zu einem polylogen Palaver der überraschenden Nachbarschaften zusammenfinden und am Ende möglicherweise wieder in Freundschaft oder Befremden münden – je nachdem. Als ersten Schritt in diesem kollektiven Lernprozess schlage ich eine kreative Thematisierung des omnipräsenten Telefonterrors vor: Warum nicht einfach lautstark kommentieren, was einem an Zufälligkeiten unfreiwilligerweise zufliegt? Warum die Menschen nicht auf spielerische Art und Weise damit konfrontieren, dass sie auch im Hier und Jetzt nicht allein auf der Welt sind? Helmut Neundlinger wurde 1973 in Eferding in Oberösterreich geboren. Neundlinger lebt seit 1992 in Wien. Er studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Wien, arbeitet dann unter anderem als Lektor, Journalist und Redakteur („Datum“). Zuletzt erschien der Gedichteband „tagdunkel“im Welser Mitter-Verlag, 2011.