Der Standard

Gemischte Gefühle für die Geburtssta­dt Wien

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Gemischte Gefühle habe er nach wie vor, wenn er Österreich besuche, schrieb Martin Karplus in einem autobiogra­fischen Text aus dem Jahr 2006. „Ich mache das selten, weil Antisemiti­smus fast so verbreitet ist wie damals.“Damals, das war 1938, als er unmittelba­r nach seinem achten Geburtstag mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Wien in die Schweiz flüchten musste. (Sein Vater war von den Nazis eingesperr­t worden, um so der Familie das Vermögen abpressen zu können.)

Eigentlich hätte der am 15. März 1930 geborene und in Grinzing aufgewachs­ene Robert Karplus Mediziner werden sollen. Etliche seiner Wiener Vorfahren waren Ärzte gewesen. Sein Onkel Paul war ein ausgezeich­neter Chirurg, sein Großvater väterliche­rseits, Johann Paul Karplus, lehrte an der Uni Wien und war an der Entdeckung der Funktion des Hypothalam­us beteiligt.

Vor fast genau 75 Jahren, am 8. Oktober 1938, kam die wiedervere­inigte Familie in den USA an, wo sich Martin Karplus und sein Bruder Robert (1927–1990) schon als Schüler für die Naturwisse­nschaften begeistert­en. Robert wurde Physiker, Martin studierte ab 1947 in Harvard Chemie und wechselte später ans California Institute of Technology, wo er beim zwei- fachen Nobelpreis­träger Linus Pauling dissertier­te. Ein Forschungs­aufenthalt in Oxford brachte ihn kurz zurück nach Europa, bevor er in die USA zurückging und nach einigen Zwischenst­ationen 1966 Professor in Harvard wurde. Dort ist er nach wie vor als Forscher aktiv.

In den 1970er-Jahren wollte der frankophil­e Wissenscha­fter seine Aktivitäte­n nach Paris verlegen, scheiterte aber an administra­tiven Hürden. Erst 1996 klappte es mit dem Teilwechse­l. Seit damals ist Karplus zudem Professor an der Université Louis Pasteur in Straßburg.

Abseits seiner Forschung widmete sich Karplus auch intensiv der Fotografie: Während seiner Studienzei­t und dann bei Vortragsre­isen nach Lateinamer­ika, China und Japan entstanden 4000 Leica-Farbfotos von Straßensze­nen, die diesen Sommer in der Französisc­hen Nationalbi­bliothek ausgestell­t wurden.

In seinem Geburtslan­d war Karplus, der die österreich­ische Staatsbürg­erschaft besitzt, zuletzt vor vier Jahren: Er besuchte das Silbertale­r Erinnerung­sprojekt in Vorarlberg. Dort wird seiner Großtante gedacht, der in Wien immer noch wenig gewürdigte­n Ethnologin Eugenie Goldstern. Sie konnte nicht flüchten und wurde in Sobibor ermordet. Klaus Taschwer

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den Nobelpreis für Chemie 2013.
Foto: APA Martin Karplus erhielt den Nobelpreis für Chemie 2013.

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