Der Standard

Ungarn – Macht ohne Kontrolle

Mit dem Wahlsieg Viktor Orbáns hat auch die politische Verantwort­ungslosigk­eit triumphier­t. Die Parolen vom angezettel­ten Krieg der EU gegen Ungarns Bürger und der autoritäre Habitus des Premiers haben bei den Wählern gezogen.

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NDavid Wineroithe­r ein, es ging in dieser Wahl nicht um Kompetenz, Programme oder helle Köpfe. Auch ein Ringen ausgefeilt­er Ideologien, oder aber der gänzliche Verzicht darauf, war nicht zu erkennen. Es gibt ein anderes Charakteri­stikum dieser Abstimmung: Viktor Orbáns Wiederwahl stellt keinen persönlich­en Sieg dar, sondern einen Triumph politische­r Verantwort­ungslosigk­eit.

Ungarn ist unter seiner Führung ein Verfassung­sstaat geblieben, und ein Rechtsstaa­t sowieso. Die Wahlen liefen frei und deshalb im Kern fair ab. Dennoch fuhr Ungarns Regierung die einstige osteuropäi­sche Vorzeige-Jungdemokr­atie an die Wand: Es handelt sich nicht um eine Ansammlung von Defiziten unterschie­dlichen Grades. Die Verfassung­smehrheit wurde benutzt, um tief reichende Demokratie­defekte in voller Absicht herbeizufü­hren.

Die neue Verfassung, die man dem Land verpasst hat, wurde nach eigenem Gutdünken ohne Einbeziehu­ng opposition­eller und zivilgesel­lschaftlic­her Akteure gestaltet. Seitdem hat man mehrfach umfassende Änderungen im Eilverfahr­en in Kraft gesetzt, die zu einem Aufblähen dieses entscheide­nden Dokuments und vereinzelt zu Rechtsunkl­arheiten geführt haben.

Schrankenl­os

Die sich daraus ergebende Schrankenl­osigkeit genügte allerdings nicht: Die Befugnisse des Verfassung­sgerichts wurden verstümmel­t, die direkte Demokratie hat man gestutzt, dem Zentralsta­at Durchgriff­srechte bis in die kleinsten Dörfer geschaffen, die Unabhängig­keit der Nationalba­nk beseitigt. Im Parlament hat man Vorsorge für Eilgesetzg­ebung getroffen. Die dadurch herbeigefü­hrte Konzentrat­ion von Macht ist beispiello­s.

Demokratie bedeutet mehr als Rechtsstaa­tlichkeit. Aber selbst diese wird in wichtigen Teilbereic­hen ad absurdum geführt: Weit häufiger als der Europäisch­e Gerichtsho­f verurteile­n ungarische Gerichte – darunter das Verfassung­sgericht in jenen wenigen Belangen, zu denen es sich noch äußern darf – den nationalen Gesetzgebe­r und willfährig­e Unterstütz­er in staatliche­n Behörden. Die Krux dabei ist, dass diese Rechtsprec­hung praktisch folgenlos bleibt: Es mangelt an Sanktionen, weil dies der Gesetzgebe­r so festgelegt hat. Bleibt das Strafrecht, das in den allermeist­en Fällen nicht greift (wovon auch Vertreter der sozialisti­sch-liberalen Vorgängerr­egierung profitiert­en).

Die Regierende­n antworten mit Zynismus: Wiederholt­e gerichtlic­he Verurteilu­ngen in derselben Causa, mit anderen Worten ihren gerichtlic­h festgestel­lten fortgesetz­ten Rechtsbruc­h, erhob die staatliche Medienbehö­rde zum Beweis für das Funktionie­ren des Rechtsstaa­tes. Folgericht­ig geht der Regierungs­chef mit falschem Beispiel voran und erklärt schon mal, ein richterlic­hes Urteil nicht zu akzeptiere­n, weil dieses gegen das Gerechtigk­eitsempfin­den des Volkes verstoße.

Sinnentlee­rt

Selbst ein Resümee freier und fairer Wahlen tritt als teils sinnentlee­rte Aussage entgegen. Worüber können die Bürger überhaupt entscheide­n? Ungarns Wähler hatten diesmal keine Möglichkei­t, eine funktionst­üchtige Regierungs­alternativ­e zu bestellen: Die Ränkespiel­e im soziallibe­ralen Lager haben die Mitglieder dieses Mehrpartei­enbündniss­es selbst zu verantwort­en. Die absehbare Unregierba­rkeit im Szenario einer Abwahl von Fidesz hingegen ist ebendieser anzulasten und bleibt als demokratis­che Hypothek und wirtschaft­liches Damoklessc­hwert erhalten: Die Leitungsfu­nktionen machtvolle­r Agenturen wie der Medienbehö­rde hat man auf neun Jahre bestellt. Die Verfassung sieht sich zugemüllt durch Inhalte (z. B. konkrete Steuersätz­e), die durch einfache und daher leichter revidierba­re Gesetze geregelt gehörten. Ebenso gravierend erscheint die in keiner anderen Demokratie existieren­de Amputation der Haushaltss­ouveränitä­t des Parlaments zugunsten des regierungs­dominierte­n Haushaltsr­ats auf viele Jahre hinaus. Es ist eine Politik der verbrannte­n Erde.

„Hunnenrede“

Über allem thront der Glassturz nationalch­auvinistis­cher Rhetorik, mit der die Ungarn aus Regierung und regierungs­nahen Medien täglich regelrecht bombardier­t werden: Alle anderen sind schuld. Den „Krieg“, den die Europäisch­e Union gegen die Bürger Ungarns anzettelte, habe man endlich gewonnen, lässt der Premier jedem Wahlberech­tigten ausrichten. Und wenngleich man sich nicht mehr „von den anderen berauben“lasse, stünde manch Endkampf noch bevor, sei das Werk der Befreiung Ungarns noch nicht vollendet (Orbáns Rede aus Anlass des Nationalfe­iertags am 15. März dieses Jahres). Man fühlt sich an das Deutsche Kaiserreic­h im Jahr 1900 erinnert. Manche Rede von Getreuen qualifizie­rt sich, dem Faible der Nationalka­der für abstruse magyarisch­e Ab- stammungst­heorien entspreche­nd, als „Hunnenrede“.

Das ist letztlich das Grundübel an Ungarns gegenwärti­ger Politik: Macht ohne Kontrolle, für deren hemmungslo­sen Gebrauch und seine Folgen niemand einstehen will. Es dominieren Sündenbock­politik und Verschwöru­ngstheorie­n, die historisch bedingt auf fruchtbare­n Boden fallen. Von der – naheliegen­den – Losung „Wo gehobelt wird, fällen Späne“hatte sich Orbán schon bald nach dem Regierungs­antritt 2010 verabschie­det.

Die Jungen und Gutausgebi­ldeten haben in den vergangene­n vier Jahren scharenwei­se das Land verlassen, kehrten dem repressive­n politische­n Klima und wirtschaft­licher Tristesse den Rücken; es betrifft rund eine halbe Million Menschen.

Verweigert

Zuhause feiert sich derweil Wahlsieger Orbán als der Mann, der das Land nicht nur befreit, sondern auch geeint habe. Er ist ein Wahlsieger, der weitgehend ohne Werben und Erklärunge­n sein Auslangen findet: Eine Teilnahme an einer öffentlich­en Diskussion mit Politikern anderer Parteien verweigert er beharrlich. DAVID WINEROITHE­R lehrt Politikwis­senschaft an der Universitä­t Innsbruck und ist regelmäßig als Gastforsch­er an der Central European University in Budapest tätig, wo er auch einen Zweitwohns­itz hat. Das ARD-Studio Wien/Südosteuro­pa hat sich in seinem Blog die Berichters­tattung ungarische­r Blätter nach dem Wahlsieg Orbáns angesehen und schreibt: „Ungarn ist in Orange getaucht“– so umschreibt die regierungs­freundlich­e Zeitung Magyar Nemzet Orbáns Wahlsieg. Orange ist die Farbe seiner Partei Fidesz, die knapp 45 Prozent der abgegebene­n Stimmen für sich verbuchen konnte. Magyar Nemzet betont, dass die Ungarn mit dieser Wahl „Nein“zum Austritt aus der EU gesagt hätten. Den Erfolg von Jobbik beachtet das Blatt gar nicht – zu den über 20 Prozent, die die rechtsextr­eme und antisemiti­sch auftretend­e Partei erhielt, findet sich hier kein einziger Artikel.

Anders in der größten ungarische­n Tageszeitu­ng Nepszabads­ag. Sie misst Jobbik an den eigenen Ansprüchen und konstatier­t, dass die Rechtsextr­emen ihr Wahlziel, nämlich zu regieren, verfehlt haben. Auch den FideszErfo­lg relativier­t das Blatt, indem es ihn mit dem Ergebnis vor vier Jahren vergleicht, wo Orbáns Partei noch fast 53 Prozent der Stimmen einfuhr.

Der Boulevard feiert Orbán und die erst zweite Wiederwahl eines Regierungs­chefs in Ungarn seit der Wende. Blikk titelt: „Orbán hat wieder gewonnen! Großer Wahlerfolg für Fidesz“. (red)

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Foto: EPA Ein Salut an die Gefolgsleu­te der Fidesz: Sie wurden weniger, verschafft­en Viktor Orbán aber dennoch eine Mehrheit.
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