Der Standard

Giftige Dämpfe aus Europas Labor

Viktor Orbáns neuerliche­r Sieg basiert auf einer Perversion der Demokratie

- Josef Kirchengas­t

DEie eigentlich­e Überraschu­ng ist, dass es keine ist. Noch vor zwei Jahren lag Viktor Orbán in einem Umfragetie­f. Damals schien keineswegs ausgemacht, dass er seinen triumphale­n Wahlsieg von 2010 beim nächsten nationalen Urnengang würde wiederhole­n können. Mit dem parteilose­n Ex-Premier Gordon Bajnai als Spitzenkan­didaten wurden einer vereinigte­n Opposition der linken Mitte seriöse Siegesscha­ncen vorausgesa­gt.

Es kam anders. Indem die Sozialiste­n ihren uncharisma­tischen Parteichef Attila Mesterházy gegen Bajnai als Frontmann durchsetzt­en, wurden sie zu effektiven Wahlhelfer­n Orbáns. Wiewohl selbst am wenigsten dafür verantwort­lich, hat Bajnai noch in der Wahlnacht den Misserfolg der Opposition schöngered­et. Dass die rechtsextr­eme Jobbik mit mehr als 20 Prozent der Stimmen zur stärksten Einzelpart­ei im Opposition­slager wurde, geht auch auf die Kappe der Linken. Sie hat aus ihrer verheerend­en Niederlage von 2010 keine programmat­ischen Konsequenz­en in Richtung Mitte gezogen und so die weitere Polarisier­ung im Land mitverschu­ldet.

Der Erfolg von Jobbik zeigt aber auch, wie gefährlich Orbáns Politik der ideologisc­hen Zweideutig­keiten ist, mit der er den rechten Rand bedient. In Wirklichke­it hat er damit die Rechtsextr­emen hoffähig gemacht. Die reagierten ihrerseits sehr geschickt und hielten sich im Wahlkampf mit rassistisc­hen und antisemiti­schen Aussagen zurück. Was Anlass zu größter Sorge gibt, ist Jobbiks Popularitä­t bei jungen, besser gebildeten Menschen in den Städten. Hier tickt eine demokratie­politische Zeitbombe. in Hoffnungsz­eichen ist, dass es die Grünen („Politik kann anders sein“) allen Widrigkeit­en zum Trotz wieder ins Parlament geschafft haben. Daraus und aus der gewachsene­n Zahl der Nichtwähle­r lässt sich schließen, dass die demokratis­che Opposition bei geschlosse­nerem Auftreten weit mehr Chancen gehabt hätte.

Ihr Zustand ist aber nicht nur selbstvers­chuldet. Wir haben es hier mit einem außergewöh­nlichen Politiker zu tun, der in sich Charisma, Skrupellos­igkeit, Opportunis­mus und machttechn­ischer Virtuositä­t in seltener Kombinatio­n vereint. Ein regierungs­naher Budapester Politologe bezeichnet Ungarn als europäisch­es Labor der Demokratie. Orbán ist der Alchemist dieses Labors. Schon vor der Wahl 2010 ließ er niemanden im Unklaren über sein Ziel: langfristi­ge Machtabsic­herung durch De-facto-Aufhebung der Gewaltentr­ennung.

Und das Wahlergebn­is gibt ihm, aus seiner Sicht, recht: Trotz eines Minus von neun Prozentpun­kten bei den Zweitstimm­en rettete ihm das perfekt „reformiert­e“Wahlrecht – so schien es zumindest nach dem vorläufige­n Ergebnis – die knappe Zweidritte­lmehrheit im Parlament. Zwei Drittel der Mandate bei nicht einmal einem Drittel der Zweitstimm­en – das wäre schon pervertier­te Demokratie.

Trotz seines demonstrat­iven Triumphali­smus könnte Orbán das Wahlergebn­is auch als Warnung interpreti­eren. Er könnte zum Schluss kommen, dass man Demokratie letztlich nicht ungestraft manipulier­en darf und dass es endlich an der Zeit ist, die Ungarn zusammenzu­führen. Damit könnte er, ähnlich dem einstigen Ultranatio­nalisten Aleksandar Vučić in Serbien mit seiner proeuropäi­schen Wende, ein Signal weit über die Landesgren­zen hinaus geben. Das würde freilich bedeuten, dass der Angriffspo­litiker Orbán auch über sich selbst siegen kann. Und das wäre wirklich eine Überraschu­ng.

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