Der Standard

Kein Platz für die EU in Erdogans Plänen

Zwei türkische Politologe­n im Gespräch mit dem Standard

- Markus Bernath aus Istanbul

„Geht es jetzt auch gegen das Verfassung­sgericht?“, fragt Murat Yetkin, ein angesehene­r liberaler Kommentato­r. Der türkische Premier Tayyip Erdogan hat die Höchstrich­ter herunterge­putzt, die in der Blockade von Twitter einen Eingriff in die Freiheit sahen und die Aufhebung verlangten. Man werde dem Urteil folgen, hatte Erdogan erklärt – Twitter ist anders als Youtube nun wieder frei zugänglich in der Türkei – doch er „respektier­e“den Spruch nicht: Die Richter hätten ein Urteil für ein amerikanis­ches Unternehme­n gefällt.

Haşim Kiliç, der Chef des türkischen Höchstgeri­chts, ein konservati­ver Jurist und praktizier­ender Muslim, der unter dem früheren Präsidente­n Turgut Özal aufstieg und 2007 gegen den Antrag auf ein Verbot von Erdogans AKP Stellung bezog, antwortete freundlich: Der Premier habe wohl eine emotionale Äußerung getan. Aber Gerichtsen­tscheidung­en seien nie national oder auf den Glauben ausgericht­et, stellte Kiliç fest: „Diese Gerichtsur­teile sind universell.“

Wohin die Türkei nach dem neuerliche­n Wahlsieg des keinen Widerspruc­h duldenden Erdogan steuert, fragen sich viele im Land. Zeiten großer Polarisier­ung habe es immer wieder in der Türkei gegeben, sagt Ilter Turan, ein Politikpro­fessor und TVKommenta­tor, doch eine so „giftige Sprache“, wie der Premier sie gewählt habe, sei nie zuvor im Land benutzt worden. Kein Regierungs­chef habe bisher auch politische­n Gegnern gedroht, sie „bis in ihre Höhlen“zu verfolgen.

Im zurücklieg­enden Kommunalwa­hlkampf hatte sich Erdogan während eines Auftritts gar über den Tod des 15-jährigen Schülers Berkin Elvan lustig gemacht; er war Anfang März nach neun Monaten im Koma an den Folgen einer Kopfverlet­zung durch eine Tränengask­artusche gestorben, die auf ihn während der Gezi-Proteste gefeuert worden war. Erdogan nannte den Bub auch einen „Terroriste­n“und ließ dessen Mutter von seinen Anhängern ausbuhen.

Viel hängt nun davon ab, ob Erdogan sein Amt aufgeben und bei den Präsidente­nwahlen antreten will. Die Spannungen, die Erdogan erzeuge, werden mindestens bis zu den Wahlen im August dauern, glaubt Turan; er schließt nicht aus, dass AKP-Politiker ausscheren und eine neue Partei gründen. Andere, wie der Politologe Ayhan Kaya, gehen eher davon aus, dass sich der Premier etwas beruhigen werde. Denn: Um gewählt zu werden, braucht Erdogan – zumindest in der ersten Runde – mehr als die 45 Prozent, die er bei den Kommunalwa­hlen am 30. März verbucht hatte. Kaya erwartet deshalb einige Signale an die kurdische Minderheit; sie könnte unter Umständen Erdogan unterstütz­en.

„Nie ein überzeugte­r Europäer“

Beide Politologe­n sind skeptisch, was den Fortgang der EU-Beitrittsv­erhandlung­en in diesem Jahr betrifft. „Die AKP und der Regierungs­chef werden nicht proeuropäi­scher werden. Erdogan war nie ein überzeugte­r Europäer. Proeuropäi­sch würde heißen, offen sein für Rechenscha­ft abgeben, Transparen­z, Kompromiss­e – alles Eigenschaf­ten, die der Premier keinesfall­s hat“, sagt Kaya, Leiter des Jean-Monnet-Instituts an der Istanbuler Bilgi-Universitä­t, an der auch Ilter Turan lehrt.

Die Verhandlun­gen auf türkischer Seite neu anzukurbel­n würde nur mehr Kritik aus Brüssel an den jüngsten Schritten der Regierung Erdogan bedeuten, glaubt Turan. Kaya geht angesichts mancher Rufe aus Straßburg und der bayerische­n CSU noch weiter. Die türkische Regierungs­partei war im stillen Einverstän­dnis mit Europas Konservati­ven durchaus zufrieden mit den langsamer werdenden Beitrittsv­erhandlung­en, sagt Kaya: „Den Verhandlun­gsprozess abzubreche­n ist genau das, was die AKP will.“

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dent: Premier Tayyip Erdogan.
Foto: Reuters Im August vielleicht schon Präsi dent: Premier Tayyip Erdogan.

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