„Wir arbeiten am GPS des Speichels“
Anhand von Speichel lassen sich fast alle Krankheiten diagnostizieren, sagt der US-Forscher David Wong. Robert Czepel sprach mit ihm über die kalifornische Forschermentalität, Organe, die über Speichel kommunizieren, und die Früherkennung von Krebs.
Standard: Sie sind der Pionier der Speichelforschung – wie kam es, dass Sie diese Substanz als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt ausgewählt haben? Wong: Diese Reise begann vor zehn Jahren. Damals investierten die National Institutes of Health in diesen Forschungsbereich mit dem Ziel, den Speichel in die klinische Praxis zu befördern. Speichel ist immer verfügbar und wissenschaftlich genauso wertvoll wie Blut oder die Rückenmarksflüssigkeit. Aber er wurde bis dahin nie wissenschaftlich untersucht. Speichel war als Körpersubstanz – aus psychologischen und kulturellen Gründen – bis vor kurzem negativ konnotiert, obwohl er alle Inhaltsstoffe aufweist, die auch im Blut vorhanden sind. Standard: Auch Immunzellen? Wong: Ja, auch Immunzellen. Speichel eignet sich daher hervorragend für die Diagnose von Krankheiten. Man kann damit etwa frühe Stadien von Krebs erkennen. Was sehr wichtig ist, denn in frühen Stadien ist Krebs bedeutend einfacher zu behandeln. Ein Dollar, den wir in die Früherkennung von Krankheiten investieren, ist so viel wert wie 99 Dollar in der Behandlung. Standard: Wie weit ist Ihre Forschung in den letzten zehn Jahren gediehen? Wong: Man muss vorausschicken: Der Weg zur klinischen Realität ist ein weiter – insbesondere in Bezug auf die behördliche Zulassung neuer Methoden, die in den USA von der Food and Drug Administration (FDA) vergeben wird. Wir haben bisher sechs verschiedene Diagnoseverfahren entwickelt. Diese Verfahren verwenden Proteine, Nukleinsäuren, Stoffwechselprodukte und Mikroben als Biomarker für Krankheiten. Allein im Speichel gibt es mehr als 700 verschiedene Bakterienarten. Und die Standard: Welche Krankheiten können Sie mit diesen Verfahren diagnostizieren? Wong: Bei drei Krankheiten sind wir in der klinischen Forschung bereits sehr weit, also kurz vor der Beurteilung durch die FDA. Das sind Mundhöhlen- und Magenkrebs sowie eine Autoimmunerkrankung namens Sjögren-Syndrom. Standard: Wie sieht es mit anderen Krankheiten aus? Welche Grenzen sehen Sie für Ihre Methode? Wong: Bei Bauchspeicheldrüsenund Lungenkrebs, Diabetes und anderen Stoffwechselkrankheiten haben wir ebenfalls Biomarker im Speichel gefunden. Ich weiß noch nicht, ob diese und andere Diagnosemethoden von der FDA zugelassen werden, aber mein Bauchgefühl sagt mir: Die meisten Krankheiten spiegeln sich im Speichel wider. Wenn uns die Systembiologie etwas lehrt, dann die Tatsache, dass kein Organ isoliert ist. Sie sind alle verbunden: Die Leber spricht mit der Speicheldrüse – auf welche Weise sie das tut, werden wir herausfinden. Standard: Wie Sie in einer Ihrer Forschungsarbeiten schreiben, befinden sich im Speichel auch erkleckliche Mengen Ribonukleinsäuren (RNA). Wong: Die RNAs sind unseren Forschungen zufolge die verlässlichsten Biomarker. Die anderen sind gut, aber die RNA scheint sich am besten zu eignen. Standard: Ist das bloß ein zufälliges Nebenprodukt oder tatsächlich Anzeichen dafür, dass die Organe genetische Information austauschen? Wong: Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, hätte ich auf die verändern sich, wenn Menschen älter oder krank werden. „Im Speichel gibt es mehr als 700 Bakterienarten. Und die verändern sich, wenn Menschen älter oder krank werden“, sagt David Wong. Er träumt von einem Westentaschenlabor zur Selbstdiagnose. erste Möglichkeit getippt. Speichel wurde damals als Abfalleimer betrachtet. Nun wissen wir, dass es ganz anders ist. Die Organe senden ihre Vehikel in das Blut und in den Speichel aus, um miteinander zu kommunizieren. Standard: Was lösen diese Vehikel in den anderen Körperteilen aus? Wong: Wir produzieren täglich anderthalb Liter Speichel und schlucken ihn. Er wandert in den Magen und den Verdauungstrakt, wo er über Vesikel, sogenannte Exosome, das Immunsystem beeinflusst. Ähnlich, wie das auch beim Blut der Fall ist. Viele der biologi- schen Funktionen des Speichels kennen wir noch nicht, es eröffnet sich gerade ein neuer Forschungshorizont. Standard: Ein Blick in die Zukunft: Wie könnte Ihr Ansatz in zehn Jahren in der Praxis aussehen? Wong: Denkbar wäre, dass wir in Zukunft unseren Speichel beim Zahnarzt analysieren lassen oder es zu Hause selbst tun, etwa beim Zähneputzen. Standard: Dazu bräuchte es allerdings ein leistungsfähiges „Lab on a chip“, ein Westentaschenlabor. Wong: So ist es, technisch sind wir davon nicht weit entfernt, unsere Diagnoseeinheit ist zurzeit ungefähr ein Drittel so groß wie ein Laptop. Man gibt einen Tropfen Speichel drauf, und fünf Minuten später hat man das Ergebnis. Was wir noch herausfinden müssen, ist: Auf welche Biomarker müssen wir achten, wenn wir etwas über eine spezifische Krankheit erfahren wollen? Im Grunde ist es so wie mit dem Verkehr: Die Autos sind bereits da, aber wenn wir uns orientieren wollen, brauchen wir das GPS. Wir arbeiten am GPS des Speichels. Standard: Ihre Universität, die UCLA (University of California, Los Angeles), ist laut dem Times Higher Education Ranking die elftbeste Hochschule der Welt, wobei sie im Gegensatz zu den Elite-Universitäten der Ivy League eine öffentliche Hochschule ist. Welche Unterschiede sehen Sie? Wong: Ich war bis 2001 Professor in Harvard und bin dann an die UCLA gegangen. Hätte ich diesen Schritt nicht gemacht, würde ich Ihnen nicht gegenübersitzen und über dieses Thema reden. Denn in Boston dachte ich noch: Die Technologie ist etwas für die Jungs vom MIT. Und die Proteinforschung ist etwas für die Biologen. Nun machen wir all das selbst. Glauben Sie mir: Unser Ansatz war zu Beginn sehr unkonventionell. Standard: Was war der Grund für Ihr Umdenken? Wong: Vielleicht sind die Leute in Kalifornien offener für neue Ideen. Jedenfalls ist die Forschung im Großraum Boston stärker in Territorien eingeteilt. Außerdem gelang es mir, an der UCLA entsprechende Fördergelder einzuwerben. Ich war in Harvard erfolgreich, doch nun ist mein Funding viermal so hoch. Ich fühle mich privilegiert, das tun zu können, was mich fasziniert.
ist Pionier der Speichel- und Biomarkerforschung. Der studierte Biochemiker forscht nach Zwischenstationen in Harvard und Israel an der University of California, L.A. Dort ist er Professor für orale Biologie und Medizin und Direktor des Dental Research Institute. Er ist Autor von mehr als 230 wissenschaftlichen Publikationen und wurde mit einer Reihe von Auszeichnungen bedacht. Kürzlich war er am Wiener Austrian Institute of Technology (AIT) zu Gast, wo er im Rahmen eines internationalen Biomarker-Symposiums einen Vortrag hielt. Thema: „Salivary Diagnostics: Scientific & Clinical Frontiers“.