Flucht ins tropische Exil
Viele österreichische Juden flüchteten vor dem NS-Regime auch nach Afrika und Asien. Ein umfangreicher Sammelband gewährt erstmals Einblick in dieses unerforschte Kapitel des Zweiten Weltkriegs.
Graz – Wer als Verfolgter aus Nazideutschland flüchten konnte, galt als gerettet. Doch wie sah diese Rettung aus, wenn die Hauptländer des Exils – Großbritannien, USA oder Frankreich – die Einreise verweigerten? Wie erging es beispielsweise den geschätzten 2000 Flüchtlingen, die ihren allerletzten Zufluchtsort in Afrika oder Asien fanden?
Darüber kennt man bisher nur vereinzelte Geschichten, denn eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses an der Oberfläche so exotischen Aspekts des Zweiten Weltkriegs und der Shoah hat es nie gegeben. Eine auffallende Lücke in der Geschichtsforschung, die nun schrittweise geschlossen werden könnte. Denn mit ihrer 700 Seiten starken Publikation Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika haben die beiden Grazer Historiker Margit Franz und Heimo Halbrainer eine völlig neue zeithistorische Landkarte geöffnet.
Auf dieser findet man zum Beispiel auch die Philippinen, wo rund 1300 Verfolgte aus dem Dritten Reich, darunter 180 Österreicher, Zuflucht fanden. Geplant war eigentlich ein großes jüdisches Ansiedlungsprojekt auf der Insel Mindanao, das letztlich jedoch nie zustande kam. Die meisten Flüchtlinge siedelten sich in Manila an, wo sie sich großteils als kleine Gewerbetreibende über Wasser hielten. Diese mühsam aufgebauten Existenzen wurden durch die Machtübernahme der Japaner 1943 jedoch bald wieder zerstört. Als sich in Europa der Krieg seinem Ende näherte, brach im Februar 1945 die Schlacht um Manila aus, bei der auch 79 jüdische Flüchtlinge starben.
Enorme Strapazen
Die 24 Autoren und Autorinnen nähern sich dem Thema des tropischen Asyls von verschiedenen Fachbereichen und Perspektiven aus an und schöpfen aus den unterschiedlichsten Quellen, sodass sich dem Leser ein komplexes Bild der damaligen internationalen Vernetzungen und Machtverhältnisse sowie von deren Auswirkungen auf die Menschen erschließt.
Neben Beschreibungen der politischen Verhältnisse in den einzelnen Aufnahmeländern stehen (auto)biografische Skizzen der Flüchtlinge, eine Bestandsaufnahme der nie realisierten jüdischen Siedlungsprojekte in Afrika und Asien sowie zwei Texte der türkischen Autorin Asli Erdoan, in denen die zahlreichen Parallelen zur gegenwärtigen Migrationsproblematik sichtbar werden.
„Natürlich unterschieden sich die einzelnen Fluchtdestinationen stark voneinander“, sagt Heimo Halbrainer, „was sie aber verbindet, sind die enormen körperlichen Strapazen, denen die Flüchtlinge ausgesetzt waren.“Dabei herrschten zumindest anfangs bei den meisten Flüchtlingen Op- timismus und der Mut zum Neubeginn unter sehr schwierigen Bedingungen vor.
So heißt es etwa in einem Brief der Krankenschwester Ruth Katzenstein vom Juli 1939 aus der britischen Kolonie Nord-Borneo an das Jüdische Nachrichtenblatt in Wien: „Deshalb möchte ich sämtlichen Frauen und Müttern, die die Aussicht haben, in die Tropen auswandern zu können, sagen: Fürchtet Euch nicht! Es ist alles so einfach, wie man es sich macht, wenn erste und wichtigste Grundbedingung ‚Sauberkeit‘ bleibt!“
Was die Familie mit ihren zwei kleinen Kindern später erleben musste, war jedoch durchaus zum Fürchten. Als die Japaner 1942 die Macht auf Borneo übernahmen, mussten die Katzensteins als Krankenschwester und Arzt japanische Soldaten versorgen. Die Familie lebte im Dschungel, zu essen gab es nur, was man dort fand. „Wir ernährten uns vier Jahre lang praktisch nur von Schnecken, Schlangen und Heuschrecken, die es im Dschungel auf Borneo gab. Richtiges Essen lernte ich erst später in Australien kennen“, erinnert sich Tochter Eva.
Gescheiterte Utopien
Aus der Not heraus wurden auch alte sozialutopische Konzepte wiederbelebt und Projekte zur kollektiven Ansiedlung von Juden geplant – in Alaska, Angola, Argentinien, Australien, Bolivien, Brasilien, Britisch-Guyana, der Dominikanischen Republik, Ecuador, Kanada, Kenia, Madagaskar, Nord-Rhodesien, Philippinen, Tanganjika, Uganda oder Yunnan. Bis auf die Jüdische Autonome Sowjetrepublik Birobidžan im fernen Osten der Sowjetunion, wo sich bereits seit den 1920er-Jahren Juden ansiedelten, kamen die meisten dieser Vorhaben über die Planungsphase jedoch nicht hinaus, wie die Historikerin Susanne Heim darlegt.
„Die Gründe für das Scheitern der Projekte liegen nicht nur in den hohen Erwartungen, sondern vor allem in der spezifischen politischen Situation der späten 1930er- und frühen 1940er-Jahre, an der festgefahrenen Flüchtlingspolitik – und am Krieg.“Neben dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland als Ursache des Flüchtlingsproblems tragen auch die potenziellen Zufluchtsstaaten einen großen Anteil der Schuld, da sie sich gegen die unerwünschten Einwanderer zunehmend abschotteten.
Keine Migrationsregulierung
Die Konferenz von Evian, zu der Roosevelt 1938 mit dem Ziel einer globalen Migrationsregulierung rief, scheiterte ebenso wie die vielen Siedlungsprojekte. Warum die 32 vertretenen Staaten keine Lösung fanden? Weil kein einziger Staat Flüchtlinge in größerer Zahl aufnehmen wollte – auch nicht die einladende US-Regierung. Das erinnert an die aktuelle Situation, nur dass sich die Richtung der Flüchtlingsströme umgekehrt hat.
In wissenschaftlicher Hinsicht wurde mit dieser Publikation eine solide Basis für weitere Expeditionen in eine zeithistorische Terra incognita gelegt. Dass man für diese Vorstöße aufgrund der schwierigen Quellenlage besonders gut gerüstet sein muss, liegt auf der Hand. Margit Franz, Heimo Halbrainer (Hg.): „Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika“. Clio: Graz 2014