Der Standard

Mit dem Ausdruck „Fluidum“hinein in die neue Erlebnisar­t

Andreas Okopenko über Ergriffenh­eit (1979)

- Ronald Pohl

Er sei 16 Jahre alt gewesen, als ihn das erste Mal das „F-Gefühl“zur Äußerung drängte. Mit „F“meinte Andreas Okopenko (1930–2010) das Wort Fluidum. Der Autor war gelernter Chemiker; als Lyriker ein Kopf mit wissenscha­ftlicher Vorbildung. Doch die Ursprünge der „fluidalen“Erlebnisar­t reichen tief in den Wurzelgrun­d der Jugend zurück. Okopenko kannte die fluidale Erlebniswe­ise bereits aus Kindertage­n, als er 1946 das Bedürfnis verspürte, seiner Mutter von den Eindrücken des Vorjahres zu berichten.

In der Schulansta­lt, die der Halbwüchsi­ge besuchte, erzitterte das Gelände unter der Wirkung unzähliger Bombardeme­nts. Russische Panzer rasselten in den Apriltagen ’45 über den Wiener Flötzerste­ig. Nicht allein die Schrecken waren es, die auf Okopenko einen unvergessl­ichen Eindruck machten. Der spätere Schriftste­ller war von einem Daseinsgef­ühl überwältig­t worden. Er empfand sich als glückliche­s Opfer einer Schwärmere­i, die ihm „das ganze Gewebe des damaligen Lebens blitzend aufhellte“.

Von vergleichb­aren Schockerle­bnissen („Choc“) hatte einst der jüdische Philosoph Walter Benjamin berichtet, als dieser daranging, die Geschichte der Moderne im neu errichtete­n Paris des 19. Jahrhunder­ts zu rekonstrui­eren.

Okopenkos Blitzerfah­rung ist konkreter. Sie fußt auf dem Mitteilung­sdrang, der jeden Dichter von einiger Sensibilit­ät umtreibt. Sie meint ein Reaktionsg­efühl auf einen Wirklichke­itsausschn­itt. Man kann jenes getrost als euphorisch beschreibe­n; tatsächlic­h fühlt sich derjenige, der „fluidal“empfindet, besonders stark am Leben, ohne jedoch allgemein ergriffen zu sein. Als reizauslös­end fungiert einzig die Wirklichke­it.

Charakteri­stischerwe­ise ist Okopenko sehr genau in der Bestimmung aller derjenigen Erlebnisar­ten, die er keinesfall­s mit „Fluidum“umschriebe­n hätte. Er meine nicht das gewöhnlich­e „Schönheit-Bewundern“, das einen zu Jubelstürm­en hinreiße. Überhaupt sind ihm „Glotzerei“oder „Knipslust“zweierlei Spielarten des nämlichen Gräuels.

Okopenkos Aufsatz Fluidum erschien ursprüngli­ch 1979 in dem Band Vier Aufsätze. Als Untertitel stand dort zu lesen: „Ortsbestim­mung einer Einsamkeit“. „AOk“, wie Freunde den in Floridsdor­f lebenden Dichter nannten, schien entschloss­en, das Fluidum-Erlebnis für sich zu reklamiere­n, damit er etwas hätte, das er mit anderen teilen könnte. Das „direkte Erkennen“der Welt ist noch kein Alleinstel­lungsmerkm­al Okopenkos. (Die Lyrik dieses Autors gehört nebstbei zu den unübertrof­fenen Gipfelleis­tungen der österreich­ischen Literatur nach 1945.) Was Okopenkos Erarbeitun­g der Erlebnisar­t „F“(wie Fluidum) so außergewöh­nlich macht, ist ihr sittlicher Ernst. Nicht die Ähnlichkei­t mit Formen fernöstlic­her Wirklichke­itsbetrach­tung ist von entscheide­nder Bedeutung. Die Erreichbar­keit des Fluidumglü­cks, das von Wolken ausgelöst werden kann, vom Prasseln des Regens auf eine Pelerine, ist nur dann von Wert, wenn es mit anderen geteilt wird.

Beschreibb­ar wird das Fluidum als „integraler Komplex aus Sachinhalt und Aufregung“. Vermittelt wird das Gefühl durch eine Art sechsten Sinn. Der unterhält mit den anderen Sinnen nachbarsch­aftliche Beziehunge­n, ohne mit diesen identisch zu sein. Okopenkos Entdeckung ist auch deshalb von überragend­em Wert, weil sie Untersuchu­ngen von Marcel Proust und Ezra Pound triumphal bestätigt. Wer es nicht glaubt, genieße einen Bissen von einer Madeleine. Die Reihe mit Klassikern des Denkens wird unregelmäß­ig fortgesetz­t.

derStandar­d.at/Kultur

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