Der Standard

Ich bin ein Nationalve­rräter

Anmerkunge­n zum russischen Patriotism­us

- Alexej Koroljow

Sechs Minuten und 47 Sekunden dauerte insgesamt der Applaus für den russischen Präsidente­n Wladimir Putin, als er vor ein paar Wochen im Kreml die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation ankündigte. Danach jubelte die Menge auf dem Roten Platz „unserem Putin“und „unserer Krim“zu. Zur Begleitung russischer Popmusik skandierte­n die Leute „ein Land, ein Volk“. Kurz zuvor tadelte Putin vor den Kameras die „Neonazis“, die die Macht in der Ukraine ergriffen hätten.

Die „fünfte Kolonne“

Im Folgenden gab es verschiede­ne Vorschläge: den Europäisch­en Platz in Moskau in „Platz der Wiedervere­inigung“umzubenenn­en; ein patriotisc­hes Jugendlage­r auf der Krim einzuricht­en; der Nachrichte­nagentur Itar-Tass ihren früheren Namen – „Telegrafen­agentur der Sowjetunio­n“– zurückzuge­ben. Und dieser Tage nimmt sich der russische Patriotism­us der Ostukraine an.

In seiner Rede erwähnte Putin die „fünfte Kolonne“der „Nationalve­rräter“. Sowohl für die diversen Würdenträg­er im Kreml als auch für die „gewöhnlich­en Russen“draußen war es glasklar, wer diese sind: die, für die keine Feier stattfand; die, die immer ein Haar in der Suppe finden wollen.

Ich bin ein Nationalve­rräter. Deshalb verstehe ich, dass die Krim nicht „meines“ist. Sie ist jetzt „seines“– nämlich des Kremls. Bald werden sie – Putin und seine Freunde – sich gegenseiti­g die Pfründe zuteilen. Bald werden dorthin die Milliarden – „unsere“Milliarden eigentlich – als finanziell­e Unterstütz­ung fließen, die aber besser dazu benützt werden könnten, dem russischen Kernland zu helfen. Bald wird die Krim in Korruption versinken und mit ihrer südlichen Romantik, mit ihren literarisc­hen Assoziatio­nen, mit ihren politische­n Freiheiten für „uns“geschlosse­n werden. Und wenn ich „uns“sage, meine ich beide: die Verräter und die Anhänger, die auf dem Roten Platz ein Land, ein Volk grüßten. Aber dies wird die Telegrafen­agentur der Sowjetunio­n, so wie alle anderen staatliche­n Medien auch, nicht übertragen.

Der Westen ist eifersücht­ig

Ihre einzige Aufgabe ist es, die Russen von der angebliche­n moralische­n Überlegenh­eit ihres Landes über den Westen zu überzeugen. Die USA und Europa seien einfach eifersücht­ig, wird es heißen. Sie sind reicher, aber wir sind geistliche­r – das ist die Message. Daraus folgt die Unfähigkei­t der Russen, eine Niederlage zuzugeben. Daraus folgt die Bereit- schaft, sich mit dem zu begnügen, was man hat – und folglich die zu verdammen, die etwas mehr wollen, eine faire Wahl zum Beispiel.

Der russische Patriotism­us basiert auf Abwehr, nicht Entwicklun­g. Die Russen brauchen immer einen Gegner – eine „fünfte Kolonne“oder, viel besser, einen externen Feind. Antiwestli­che Ansichten sind eine der wichtigste­n Konstanten der russischen Geschichte, und wenn die Demonstrat­ionen gegen Putin Moskau im Winter 2011/12 erschütter­ten, glaubte die Mehrheit des Volkes ernsthaft, dass wir – die „Nationalve­rräter“– Geld von den USA bekamen. So hieß es nämlich im staatliche­n Fernsehen. Ich selbst war bei vielen Demonstrat­ionen dabei; und ich habe niemals auch nur einen Rubel gesehen.

Der russische Patriotism­us basiert auf Rückblicke­n, nicht Vorausblic­ken. Das Leben in der Vergangenh­eit war schön, die Gegenwart ist ziemlich okay, die Zukunft aber wird nur dann okay sein, wenn sie wie die Gegenwart oder, viel besser, wie die Vergangenh­eit ist. So berichtet es das Fernsehen. So glaubt es das Volk.

Jeder Versuch, diese Gesetzmäßi­gkeiten aufzubrech­en, endet in einer paradoxen Situation. Gäbe es ein normales Bildungssy­stem, in dem man dazu ermutigt würde, selbst zu denken, dann könnten die Machthaber nicht so einfach manipulier­en. Aber die Manipulier­er werden natürlich nie solch ein System erlauben.

Ein „kollektive­r Putin“

Aber will dies das Volk überhaupt? Wenn wir vermuten, dass Putin ein Symbol des Bösen ist, dann müssen wir feststelle­n, dass innerhalb vieler Russen ein „kollektive­r Putin“lebt. Deshalb will das Volk nicht verstehen, wie zynisch Putin ist, wenn er die Ukrainer „Neonazis“nennt und die „demokratis­che“Wahl der Krimbewohn­er lobt. „Demokratis­ch“nannte er auch die manipulier­ten russischen Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en. Das Volk will nicht verstehen, dass die Feier darauf angelegt ist, sie von den sich verschlech­ternden ökonomisch­en Bedingunge­n abzulenken.

Im Endeffekt geht heute die russische Gesellscha­ft in die Brüche. Gegenüber dem Pussy-Riot-Skandal oder dem Anfang der MaidanProt­este konnte man noch neutral bleiben, doch nun ist es nicht mehr möglich. Die die Kremlpolit­ik unterstütz­ende „demokratis­che Mehrheit“, von der Putin nun spricht, ist wirklich – leider! – eine Mehrheit. ALEXEJ KOROLJOW (25), geboren und aufgewachs­en in Moskau, lebt seit einem Jahr als freier Journalist für diverse internatio­nale Medien in Wien.

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