Der Standard

Jihadismus: Panzer statt Prävention

Erfolgreic­he Programme gegen jugendlich­e Radikalisi­erung benötigen Zeit und Geld

-

über sich seit langem abzeichnen­den Problemen, für deren Benennung man Gefahr lief, in die rechte Ecke gestellt zu werden, anderersei­ts an versäumter Prävention.

Prävention­sarbeit meint Arbeit mit Kindern und Jugendlich­en, die ihnen die Werte einer demokratis­chen und pluralisti­schen Gesellscha­ft erfolgreic­h vermittelt und ihnen die Teilhabe an derselben ermöglicht. Der wichtigste Platz dafür ist die Schule. Aber dort mangelt es nicht nur an Schulpsych­ologen und an Schulsozia­larbeitern, sondern auch an Ressourcen für geeignete Projekte. Weder gibt es ein verpflicht­endes Fach Ethik noch ein eigenes Fach Politische Bildung, in denen Werte und Grundlagen moderner demokratis­cher Gesellscha­ften, deren Geschichte und Wirkung vermittelt und diskutiert werden könnten.

Auch im außerschul­ischen Bereich gäbe es eine Menge Prävention­sprojekte, die zum Teil im Ausland bereits erfolgreic­h laufen. Beispielha­ft ist etwa das deutsche Projekt Heroes. Es zielt auf das Aufweichen tradierter Geschlech- terrollen und autoritäre­r Erziehungs­vorstellun­gen in konservati­ven muslimisch­en Familien; es geht dabei um alternativ­e Sichtweise­n und Konfliktlö­sungen jenseits von Gewalt und damit um die Chance, Jugendlich­e gegen jihadistis­che Werbung zu wappnen.

Prävention­sprojekte haben in Zeiten hektischer Betriebsam­keit einen Nachteil: Sie benötigen Zeit. Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten, sie lassen sich nicht als unmittelba­re Jihadismus­bekämpfung verkaufen. Prävention scheint nicht sexy genug. Ahmad Mansour, einer der Projektlei­ter von Heroes, antwortete einmal auf die Frage, was nötig sei, um erfolgreic­he Prävention­sarbeit zu leisten: „Politische­r Wille und das damit verbundene Geld.“Schaut man sich die Reaktion auf die Anschläge von Paris an, könnte man am politische­n Willen zweifeln: 300 Millionen Euro stehen für die Nachrüstun­g der Polizei bereit – 150.000 Euro für Workshops zur Deradikali­sierung und (!) Prävention. Statt dem Terror gesellscha­ftlich vorzubeuge­n, stehen wir mit Panzern bereit, wenn er kommt. HEIKO HEINISCH ist freiberufl­icher Historiker und Autor in Wien. das Sicherheit­sgefüge von Ostund Mitteleuro­pa, erst durch seine illegale Annexion der Krim und nun durch seine offenen und dreisten Versuche, die Ostukraine zu destabilis­ieren.

Auch wir wissen, dass militärisc­he Mittel diese Krise nicht beenden werden – sehr wohl aber Diplomatie. Aber je länger sie dauert, desto weniger Wahl hat die Welt, als den Preis für Russland und seine Stellvertr­eter in die Höhe zu schrauben. Die USA, Frankreich, Deutschlan­d und alle unsere Verbündete­n werden zusammenst­ehen, um die Ukraine zu unterstütz­en und das Prinzip, dass Grenzen nicht durch Gewalt geändert werden dürfen, zu verteidige­n. In dieser Frage sind wir nicht gespalten.

Die zweite große Herausford­erung ist die neue extremisti­sche Gewalt. Das Video der IS, das die Verbrennun­g eines gefangenen jordanisch­en Piloten zeigt, ist ein neuer Tiefpunkt an Verkommenh­eit. Vor kurzem hat die Uno bestätigt, was so viele schon wussten: Die IS kreuzigt Kinder, begräbt sie lebendig und missbrauch­t geistig behinderte Jugendlich­e als Selbstmord­attentäter.

Die Welt darf vor solchem Extremismu­s nicht zurückweic­hen, weder in Pakistan, Nordafrika, Nigeria, Syrien oder im Irak. Die internatio­nale Koalition gegen die IS ist auf mehr als 60 Mitglieder gewachsen. Seit September haben wir 700 Quadratkil­ometer zurückerob­ert. Wir haben der IS 200 Ölund Gasanlagen wieder abgenommen – und damit ihre Erlöse verringert. Wir haben ihre Kommandost­rukturen zerstört, ihre Propaganda untergrabe­n, die Hälfte ihrer führenden Köpfe getötet, ihre Finanzieru­ng behindert, ihr Versorgung­snetzwerk beschädigt und ihre Mitarbeite­r zerstreut.

Am Beispiel Kobane

Erinnern Sie sich an Kobane, die syrische Grenzstadt zur Türkei. Sie war von Vernichtun­g bedroht, nachdem die IS mehr als 300 nahegelege­ne kurdische Dörfer erobert hatte. Die Kämpfer kontrollie­rten bereits große Teile der Stadt; weltweit rechnete man mit einem einfachen Sieg. Aber dank diplomatis­cher Zusammenar­beit, gezielter Luftschläg­e und Bodenunter­stützung von Truppen irakischer Kurden wurde die IS vertrieben und verlor rund 1000 Kämpfer.

Aber der Kampf gegen IS ist nur der Anfang. Der Kampf gegen gewalttäti­ge Extremiste­n wird nicht nur auf dem Schlachtfe­ld entschiede­n, sondern auch in den Schulen, Betrieben, Gebetshäus­ern, Gemeindeze­ntren, auf Straßeneck­en und in den Regierungs­gebäuden. Und er hängt davon ab, ob es uns gelingt, die Rekrutieru­ng von Terroriste­n zu verhindern. Wir müssen uns mit Intoleranz beschäftig­en, wirtschaft­licher Chancenlos­igkeit und der Ausgrenzun­g, was jenen Leerraum schafft, den dann der Extremismu­s ausfüllt. Überall dort müssen wir glaubwürdi­ge und machtvolle Alternativ­en fördern.

Seit Jahren reden angesichts dieser Probleme viele von der Auflösung des internatio­nalen Systems. Ich widersprec­he vehement: Das Gegenteil ist wahr. Ich sehe, wie Länder neue und weitreiche­nde Handelsver­träge aushandeln, die rund 70 Prozent des weltweiten BIPs betreffen. Ich sehe, wie die Welt zusammenar­beitet, um die Ebolaepide­mie zu bekämpfen. Ich sehe die Suche nach einer friedliche­n Lösung für die Bedrohung durch das iranische Atomprogra­mm. Ich sehe internatio­nale Bemühungen um ein ehrgeizige­s globales Klimaabkom­men und den Versuch, die Bürgerkrie­ge in der Zentralafr­ikanischen Republik, in Kolumbien oder der Demokratis­chen Republik Kongo zu beenden.

Kampf gegen extreme Armut

Ja, wir leben in schwierige­n Zeiten. Aber ich sehe die weltweiten Bemühungen, extreme Armut zu bekämpfen, Gesundheit­sprogramme­n für Mütter und Ernährungs­programme für Kinder zu fördern, den Zugang zur Bildung zu erleichter­n und die Lebenserwa­rtung zu erhöhen. Mehr Menschen denn je haben die Chance auf Wohlstand. Und trotz der Bedrohung durch Extremismu­s sterben weniger durch Gewalt als früher. All dies wurde durch die Kraft unserer Weltordnun­g ermöglicht. Wir müssen deren Realität auch dorthin bringen, wo sie ganz fern zu sein scheint.

Wir sind die glückliche­n Nachkommen von Erfindern und Tatmensche­n, die Sklaverei, Epidemien, Wirtschaft­skrisen, Weltkriege und Totalitari­smus überwanden – Menschen, die sich vor Herausford­erungen nicht schreckten und am meisten erreichten, wenn sie gefordert wurden.

Jetzt sind wir an der Reihe. Die Herausford­erung, der wir gegenübers­tehen, zwingt uns dazu, uns vorzuberei­ten, zu planen, uns zusammenzu­schließen und unsere gemeinsame Zukunft gegen den atavistisc­hen Verfolgung­swahn von Terroriste­n und Gangstern zu verteidige­n. Die Zukunft gehört den universell­en Werten Anstand, Vernunft und Rechtsstaa­tlichkeit. JOHN KERRY ist Außenminis­ter der USA. Der Text beruht auf seiner Rede vor der Sicherheit­skonferenz in München. Copyright: Project Syndicate 2015

 ??  ?? Heiko Heinisch: Warum gibt es kein Pflichtfac­h
Ethik?
Heiko Heinisch: Warum gibt es kein Pflichtfac­h Ethik?

Newspapers in German

Newspapers from Austria