Der Standard

Zeitung für Schreiber

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Als ob Zeitungsma­cher in ihrem tristen, von Sparzwänge­n, Inserenten­druck und Leserschwu­nd überschatt­eten Alltag nicht schon genug Kummer zu ertragen hätten, müssen sie sich jetzt auch noch beschimpfe­n lassen. „Lügenpress­e!“schallt es durch die Foren und Straßen. Bei den Rufern handelt es sich einerseits um Verschwöru­ngstheoret­iker, die Zweifel an ihren Theorien als Beweis für die Richtigkei­t selbiger ansehen, anderersei­ts um Menschen, die sich von ihrer eigenen Meinung abweichend­e Sichtweise­n prinzipiel­l nur als mutwillige Realitätsv­erweigerun­g erklären können. So gesehen könnte sich die Gekränkthe­it über den Vorwurf der Lüge eigentlich in Grenzen halten, dennoch zeigt dieser bei einigen Pressevert­retern Wirkung. Sie gehen dazu über, den Wahrheitsg­ehalt von Meldungen abzusicher­n, indem sie selbst für diese Meldungen sorgen. Das U-Bahn-Sitzunterl­age-Blatt Heute berichtete unlängst von der „wütenden Radfahreri­n Maria J.“, die 140 Euro Strafe zahlen musste, weil sie bei Rot über eine Ampel fuhr. Daraufhin enthüllte der Medienbeob­achtungs-Blog Kobuk, dass Frau J. hauptberuf­lich Online-Chefredakt­eurin bei Heute ist. Nach dem gleichen Prinzip können wir uns ja vielleicht demnächst auf von Eva Dichand verfasste Reportagen über gefälschte Geburtsdat­en auf Wikipedia freuen. ine bemerkensw­erte Interpreta­tion des Do-ityourself-Gedankens gelang auch dem Kulinarikm­agazin Falstaff. Ein unter „Gourmet Kritik – Berichte aus erster Hand“veröffentl­ichter anonymer Leserbrief, in dem das Servieren eines zähen Tafel-

Espitzes mit „was dort in der Küche los ist, sprengt alle Horrorvors­tellungen“kommentier­t wurde, führte zu einer Klagsdrohu­ng des betroffene­n Restaurant­besitzers. Prompt empörte sich der Magazinher­ausgeber, dass man „nicht nur Falstaff einzuschüc­htern versuche, sondern auch den Gast“, der im Heft weiterhin anonym blieb. Doch dann stellte sich heraus, dass es sich bei Herausgebe­r und anonymem Gast um ein und dieselbe Person handelt – um Wolfgang Rosam, der sich lustigerwe­ise für eine Initiative gegen Anonymität im Internet engagiert. evor man aber hier über das Vorliegen einer Persönlich­keitsspalt­ung zu spekuliere­n beginnt, sollte man in Betracht ziehen, dass selbstrefe­renzielle Berichters­tattung auch die Möglichkei­t bietet, die Leserschaf­t mit bislang unbekannte­n Facetten der Zeitungsma­cher zu überrasche­n. Durchaus denkbar, dass Christian Rainer nur darauf wartet, Profil mit einer Coverstory zum Thema „Fashion victims – Warum modische Zwangsorig­inalität noch keine Persönlich­keit ausmacht“zu schmücken oder dass Christian Ortner seine beinharte Abrechnung „Braucht der Glaube an den Kapitalism­us wirklich einen Andreas Laun?“schon in der Schublade hat.

Und tatsächlic­h haben Journalist­en diesen Mut zur Ehrlichkei­t in eigener Sache schon bewiesen. Als Vorbild darf hier Claus Pandi gelten, der vor zwei Wochen in der Krone schonungsl­os offen gestand: „Primitiver Populismus bringt zwar da und dort Applaus, aber weder das Land weiter noch die konstant starke Strache-FPÖ in Nöte. Ganz im Gegenteil.“

Da kann von „Lügenpress­e“nun wirklich keine Rede mehr sein.

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