Der Standard

Filmfest Crossing Europe würdigt Sergei Loznitsa

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Linz – Zum zwölften Mal bringt Crossing Europe europäisch­es Autorenkin­o nach Linz: Rund 160 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus 45 Ländern werden aufgeboten, zur Eröffnung ist u. a. Michael Madsens Dokumentar­film The Visit erstmals in Österreich zu sehen. Internatio­nale Festivaler­folge wie Andrei Kontschalo­wskis The Postman’s White Nights (Silberner Löwe, Venedig), Neues von Cédric Kahn, Virpi Suutari oder Bettina Blümner wird vorgestell­t. Tribute-Gast ist der ukrainisch­e Regisseur Sergei Loznitsa ( Maidan). Dauer: 23. bis 28. April. (irr)

www.crossingeu­rope.at der mir die Reise zu ihm organisier­t. STANDARD: Welche Erinnerung­en haben Sie an das sogenannte Schwarze Jahrzehnt in Algerien, den Bürgerkrie­g? Gibt es Parallelen zur Gegenwart und zum Krieg gegen den „Islamische­n Staat“? Antwort: Ich glaube, die Islamisten und die Jihadisten kommen aus demselben Milieu, und sie haben dieselben Ziele, die sie mit denselben Methoden verfolgen. Für uns in Algerien ist das, was jetzt aktuell in der Welt passiert, eine Erinnerung. Das ist uns bereits passiert. In den 1990er-Jahren haben wir denselben Horror erlebt. Es gab Leute, die Kinder ermordet haben. Es gab Leute, die Journalist­en und Karikaturi­sten getötet haben. Wir haben diesen Terror in Algerien bereits durchlebt. Wir haben die Angst erlebt, und es ist nicht lange her.

STANDARD: Gibt es eine „Waffe“, mit der man dem Islamische­n Staat entgegentr­eten kann? Und was richten die Sprache, die Literatur aus? Daoud: Ich glaube, es ist die Kultur ganz generell. Es gibt auch gar keinen anderen Weg. Man wird nicht als Islamist geboren, man wird zum Islamisten gemacht. Eben weil man einzelne Bücher gelesen hat, weil man Personen zugehört hat. Weil man bestimmte Dinge gesehen hat und selbst keine andere Lösung findet. Wissen Sie, in Algerien oder Marokko kostet einer meiner Romane 17 Euro, was, gemessen an der Kaufkraft, mehr als 150 Euro für die Käufer bedeutet, ein Vermögen. Während die Bücher der Islamisten gratis verteilt werden. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass es eben Saudi-Arabien ist, das viele dieser Bücher finanziert. Zudem gibt es abertausen­de hochreligi­öse junge Muslime, die, ebenso von Saudi-Arabien finanziert, in Nordafrika und der arabischen Welt predigen. Sie sind sehr zahlreich und haben immer mehr Einfluss auf die Jugend, auf die Frauen, die Gesellscha­ft. Ich bin mir sicher, dass man nicht mit Waffen gegen diese Strömung gewinnen kann, sondern einzig und allein mit Kultur. STANDARD: In einem Interview sagten Sie, es reiche aus, ein Buch zu lesen, damit ein Mensch zum Fanatiker wird. Doch man muss viel lesen, um frei zu werden. Daoud: Mit das Erste, was die Islamisten machen, sobald sie die Macht übernommen haben, ist es, Bücher zu verbrennen – eben weil sie sehr genau wissen, was ihnen gefährlich werden kann. Darum greifen sie auch Intellektu­elle an und töten sie. Das ist der Grund, warum sie nicht Armeekaser­nen attackiere­n, sondern Universitä­ten – weil sie vor ihnen Angst haben. STANDARD: Wie steht es um die Pressefrei­heit in Algerien? Daoud: Es ist augenblick­lich wieder sehr schwer. Denn zum wirtschaft­lichen Druck und dem politische­n ist nun ein starker religiöser hinzugekom­men, eine Seite, die die Angst schürt und Zensur betreibt. Oft sieht man davon ab, religiöse Themen aufzugreif­en. Man übt Selbstzens­ur, weil man die Reaktion fürchtet. Aber freilich gibt es auch finanziell­en Druck und Zensurzwän­ge, die durch wirtschaft­lich mächtige Konzerne ausgeübt werden. Das kannten wir bislang nicht. Ich finde, Algerien gleicht im Augenblick Russland unter Boris Jelzin. Die Zentralreg­ierung ist schwach, aber es gibt eine Vielzahl von Geschäftsm­ännern, die viel Macht übernehmen konnten. STANDARD: Glauben Sie, es könnte nach dem Ende der Ära unter Langzeitpr­äsident Bouteflika ein neuerliche­s Aufflammen des Arabischen Frühlings in Algerien geben? Daoud: Wir könnten eine friedliche Übergangsz­eit erleben, doch diese müsste rasch kommen. Die Strukturen sind sehr schwach. Es gibt das Risiko, in die Gewalt abzudrifte­n. Aber zugleich existiert nach wie vor das Trauma des Bürgerkrie­gs. Rund um Bouteflika existiert aktuell auch kein Plan für die Zeit nach seiner Präsidents­chaft. Es gibt so gut wie keine Op- position. Aus diesem Grund lehnt sich das Volk auch nicht auf. STANDARD: Welche Autoren haben Sie, abseits von Albert Camus, stark beeinfluss­t? Daoud: Vor allem in meiner Jugend hat mich Camus stark geprägt. Marguerite Yourcenar lese ich sehr gerne. Arthur Miller habe ich in meinen 20ern und 30ern sehr gemocht. Und sehr viele Literaten aus Zentral- und Osteuropa, etwa Milan Kundera. STANDARD: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, „Meursault. Contreenqu­ête“(Deutsch: „Gegenentwu­rf“) zu schreiben? Sie erzählen aus der Sicht des Bruders jener Figur, die von Meursault in Camus’ „Der Fremde“erschossen wird. Daoud: Wie Sie sicherlich wissen, bin ich bei der Tageszeitu­ng Quotidien d’Oran Kolumnist. Man muss jeden Tag ein Thema beisteuern. In einem Treffen mit einem französisc­hen Kollegen sprach er „den Schwarzen“an. Und ich habe mir dann gedacht, daraus mache ich eine Kolumne. Und es wurde mehr daraus. STANDARD: Kann man sich in der gegenwärti­gen Welt einzig und allein mit der Rolle des Schriftste­llers zufriedeng­eben? Oder muss man wie Camus auch Journalist sein, um die Politik zu kritisiere­n? Daoud: Nur Schriftste­ller zu sein ist sehr schwer. Und ich glaube, es ist vor allem in der arabischen Welt aktuell unmöglich, sich nicht den Themen der Politik oder der Religion zu widmen. Man muss sich als Autor engagieren. Es ist eine Frage auf Leben und Tod. Ich weiß nicht, ob es in Europa aktuell Schriftste­ller gibt, die sich wie wir den großen Fragen widmen und dabei gezwungen sind, die Last schwerer Bedrohunge­n zu tragen. In unseren Ländern ist es sehr schwer, ein normales, unbehellig­tes Leben als Schriftste­ller zu führen, das geht nicht. Vielleicht wird es irgendwann wieder möglich sein.

Woran arbeiten Sie ak- STANDARD: tuell? Daoud: Aktuell arbeite ich am Drehbuch für den Film, der aus Meursault. Contre-enquête gemacht wird. KAMEL DAOUD (44), 1970 in Mostaganem geboren, ist Romanautor und gilt als einer der brillantes­ten Intellektu­ellen Algeriens und des Maghreb. Im Dezember 2014 wurde gegen den Autor und Kolumniste­n der Tageszeitu­ng „Quotidien d’Oran“eine Fatwa, ein islamische­s Todesurtei­l, seitens eines radikalen Klerikers ausgesproc­hen – nicht einzig wegen seines für den diesjährig­en Prix Goncourt nominierte­n Romans „Meursault. Contre-enquête“(2014).

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