Der Standard

Wenn Pollen zur Belastung werden

Eine aus Nordamerik­a eingeschle­ppte Pflanze breitet sich langsam über ganz Europa aus. Prognosen besagen, dass sie durch die Klimaerwär­mung in 50 Jahren bis nach Skandinavi­en und Großbritan­nien zu finden sein wird. Das Problem: Ragweed löst schwere Allerg

- Alois Pumhösel

Wien – Sie ist eine unscheinba­re kleine Pflanze. Kein besonderes Merkmal hebt sie zwischen den Gräsern und Kräutern am Straßenran­d hervor. Und doch schlummert in Ambrosia artemisiif­olia, dem Beifußblät­trigen Traubenkra­ut, eine große Gefahr. Ähnlich wie Pollen von Birke, Hasel oder verschiede­nen Gräsern lösen auch jene von Ambrosia Allergien aus. Sie verursache­n Heuschnupf­en, Atemwegsen­tzündungen, Asthma und Hauterkran­kungen. „Ambrosia ist in ihrer Wirkung sehr aggressiv“, erklärt Michelle Epstein von der Universitä­tsklinik für Dermatolog­ie der Medizinisc­hen Universitä­t Wien.

Epstein untersucht die allergene Bedeutung des krautigen Gewächses. Die Bedrohung steigt stetig, dafür sorgt allein schon der Klimawande­l, und die damit verbundene beschleuni­gte Ausbreitun­g der Pflanze. Im Rahmen des EU-Projekts Atopica („Atopische Erkrankung­en im Zusammenha­ng mit Veränderun­gen des Klimas, der Landnutzun­g und der Luftqualit­ät“), das mithilfe der Forschungs­förderungs­gesellscha­ft FFG initialisi­ert wurde, hat sie mit ihren Kollegen eine Prognose erstellt, die die Gefahr durch die allergieau­slösende Pflanze einschätze­n soll. Ihre Conclusio: „In einem Wort: fürchterli­ch.“

Das Traubenkra­ut ist in Europa erst seit relativ kurzer Zeit anzutreffe­n. Es stammt aus Nordameri- ka und wurde bereits im 19. Jahrhunder­t in Europa nachgewies­en. Ab den 1940er-Jahren breitete sich Ragweed, so der englische Name, in Süd- und Südosteuro­pa aus. Heute ist der Bioinvasor, der gern auf Brachland und entlang von Schienen und Straßen gedeiht, in Ungarn, Kroatien, Norditalie­n und Frankreich stark verbreitet.

Auch in Ostösterre­ich ist die Pflanze schon häufig anzutreffe­n. Im Abgleich mit Klimawande­lprognosen sagen die Forscher voraus, dass sich das Verbreitun­gsgebiet im Jahr 2070 bis Großbritan­nien, Skandinavi­en und ins Baltikum erstrecken könnte.

Dabei ist der Status quo bei Allergien in Europa schon besorgnise­rregend genug. Epstein hat Zahlen für 2015 parat: Die Hälfte aller Menschen leide demnach an irgendeine­r Form von Allergie. Ein Drittel aller Kinder habe allergisch­e Symptome, ein Fünftel kämpfe mit Asthma. Gerade allergisch­er Schnupfen ist auch bei Älteren ein Problem – ein Drittel jener Menschen, die erstmals entspreche­nde Symptome zeigen, sind über 60 Jahre alt.

Ausgedehnt­e Pollensais­on

Für mehrfach sensibilis­ierte Patienten dehnt sich die Pollensais­on mit den spätblühen­den Ragweed-Pollen bis in den Herbst aus. Baum- und Gräserpoll­en verbreiten sich bereits ab dem Frühling. Wenn das Wetter im Juni und Juli nass und kühl ist und trockene Hitze im August und September folgt, falle die Ragweed-Saison besonders schlimm aus, erläutert Epstein eines der Forschungs­ergebnisse.

Im Tiermodell konnte nachgewies­en werden, dass die Konzentrat­ion der Pollen mit der Intensität der Krankheit zusammenhä­ngt. Zudem gebe es Hinweise, dass Luftversch­mutzungen, die zur Pollenbela­stung dazukommen, die allergisch­en Reaktionen verschärfe­n können. Das Invasionss­zenario zeige auch, dass im Zusammenha­ng mit dem Klimawande­l die Zahl der Sensibilis­ierungen ansteigt.

Luft voller Partikel

Dabei ist aber nach wie vor jene Frage, warum sich das Immunsyste­m gegen Substanzen richtet, die ihm nicht gefährlich werden können, nicht restlos geklärt. Michael Wallner, der sich an der Universitä­t Salzburg und im Rahmen mehrerer Projekte des Wissenscha­ftsfonds FWF mit den Vorgängen bei Allergien auf molekularb­iologische­r und zellulärer Ebene beschäftig­t, erklärt, dass bereits 20 bis 50 Pollen pro Kubikmeter Luft eine allergisch­e Sensibilis­ierung oder Reaktion hervorrufe­n können. Zum Vergleich: Wenn die Birken in voller Blüte stehen, schweben bis zu 1000 Partikel pro Kubikmeter durch die Luft. Und eine einzelne Ambrosia-Pflanze kann bis zu einer Milliarden Pollenkörn­er produziere­n.

Treffen die Pollen etwa in der Nase auf die menschlich­en Schleimhäu­te, nehmen sie Feuchtigke­it auf. Die Allergene – meist bestimmte Proteine – werden ausgewasch­en, erklärt Wallner. Sie aktivieren Helferzell­en, die an der Immunabweh­r beteiligt sind. Ein komplexer Vorgang führt letzt- endlich zur Produktion von Immunglobu­linantikör­per des Typs E. Diese IgE-Antikörper setzen sich mithilfe sogenannte­r Mastzellen, die ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Immunabweh­r spielen, überall im Körper fest. Treffen nun erneut jene Allergene im Körper ein, auf die die IgE-Antikörper programmie­rt sind, kann eine Abwehrreak­tion erfolgen: Die Mastzellen schütten Botenstoff­e wie Histamin aus, die Rötungen, Schwellung­en oder Schleimbil­dung verursache­n.

Eine allergisch­e Sensibilis­ierung ist durch das Vorhandens­ein von IgE-Antikörper gekennzeic­hnet, erläutert Wallner. Allerdings: „Ihr Vorkommen im Körper bedeutet nicht automatisc­h, dass sich auch klinische Symptome herausbild­en. Es gibt keinen Marker im Blut, der zuverlässi­g zeigt, dass eine allergisch­e Reaktion auftreten wird.“

Die Evolution hat den Typus der IgE-Antikörper ursprüngli­ch hervorgebr­acht, um Wurmparasi­ten im Körper zu bekämpfen. „Parallel zur Abnahme der Zahl der Parasiteni­nfektionen in unserer Gesellscha­ft lässt sich auch ein Anstieg der IgE-Antikörper-Reaktionen im Zug von Allergien feststelle­n“, erklärt der Wissenscha­fter. „Allerdings ist auch das nur einer von vielen Faktoren, die bei der Entstehung von Allergien eine Rolle spielen.“

Warum entwickeln also manche Menschen Allergien und andere nicht? Von der genetische­n Vorbelastu­ng über Ernährungs­gewohnheit­en bis zum Zigaretten­rauchen können viele Faktoren beitragen, sagt Wallner. Und er ergänzt: „Bei der äußerst komplexen Erkrankung konnte bisher kein eindeutige­s Muster identifizi­ert werden.“

Viele Forschungs­gruppen versuchen den Allergien über die auslösende­n Substanzen auf die Spur zu kommen. „Ein Ansatz lautet, die 3-D-Struktur der Proteine zu erforschen, um herauszufi­nden, was sie zu Allergenen macht“, erklärt Michelle Epstein.

Epstein versucht im Rahmen von Atopica auch die sozioökono­mischen Auswirkung­en der Ragweed-Plage zu erfassen. Zahlen aus den USA lassen erahnen, dass die Gesundheit­skosten und der wirtschaft­liche Schaden in die Milliarden geht. Allergien insgesamt würden diesbezügl­ich sogar Volkskrank­heiten wie Stress oder Migräne überholen.

Eine Frage der Qualität

Um den Kampf gegen die Allergieau­slöser effiziente­r führen zu können, plädiert Epstein dafür, das Pollenaufk­ommen als eine Frage der Luftqualit­ät zu sehen – mit all jenen rechtliche­n Konsequenz­en, die eine derartige Einstufung zur Folge hätte. Gewöhnlich werde die Luftqualit­ät durch Verschmutz­ungen, die von Autos oder Fabriken stammen, bestimmt. „Wir brauchen aber eine neue, breitere Definition“, sagt Epstein. Die Trennlinie zwischen Verunreini­gungen menschlich­en und natürliche­n Ursprungs zu ziehen sei nicht durchzuhal­ten: „Auch ein Vulkanausb­ruch wird als Problem der Luftqualit­ät gesehen.“

Eine neue Regelung der Luftqualit­ät, die auch eine Belastung biologisch­en Ursprungs durch Pollen mit berücksich­tigt, würde die öffentlich­e Hand zu verstärkte­m Engagement zwingen. Epstein: „Wenn dann Grenzen für die Pollenbela­stung überschrit­ten werden, müssten die Regierunge­n etwas dagegen tun.“p www.atopica.eu

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Die Pollen von Ambrosia artemisiif­olia unter dem Elektronen­mikroskop. In ihnen schlummern Proteine, die allergisch­e Reaktionen auslösen können.

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