Der Standard

Klares Denken auf dem Deck der Titanic

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Man kann wahrlich nicht behaupten, dass es wenig Literatur über den Wiener Kreis gäbe: Von der dünnen rororo-Bildmonogr­afie über die dicken, gerade erst wieder aufgelegte­n Studien zum Wiener Kreis des Wissenscha­ftshistori­kers Friedrich Stadler bis hin zu einer Flut an Sammelbänd­en aus dem 1991 gegründete­n Institut Wiener Kreis ist eine ganze Reihe an Büchern über Schlick, Neurath und Co. erhältlich.

Die mit Abstand beste Einführung in die Gedankenwe­lt und das bunte Treiben dieses exzentrisc­hen Denkerzirk­els liegt aber erst seit einigen Wochen vor: Karl Sigmund, seit kurzem Emeritus an der Uni Wien, hat seinen Unruhestan­d nicht nur dazu genützt, um eine großartige Ausstellun­g über den Wiener Kreis auf die Beine zustellen. Davor und daneben hat er – „als Belohnung“, wie er selbst sagt – auch noch ein famoses Buch über die so unterschie­dlichen Protagonis­ten des Wiener Kreises und seine Vor- und Mitläufer verfasst.

Der angesehene Mathematik­er und Spieltheor­etiker beginnt seine unterhalts­ame Tour d’horizon mit den beiden streitbare­n Zwillingen, den Physikern Ludwig Boltzmann und Ernst Mach, die sich rund um 1900 in der Frage der Atome in die Haare kriegten. Am Ende des Buchs steht ein anderer legendärer Denkerstre­it: der nämlich zwischen Karl Popper und Ludwig Witt- genstein, zwei höchst einflussre­ichen „Randfigure­n“des Wiener Denkerzirk­els.

Dazwischen macht Sigmund in Sie nannten sich der Wiener Kreis eindrucksv­oll klar, warum Wien „in der Philosophi­e eine ähnliche richtungsw­eisende Rolle gespielt hat, wie einst in der Musik“– und warum in diesem goldenen Zeitalter der österreich­ischen Philosophi­e der Wiener Kreis eine zentrale Stellung einnahm. Nicht ausgespart bleibt dabei der politische Kontext der 1920er- und 1930er-Jahre, auf den sich Sigmunds treffende Formulieru­ng vom „Tanz auf dem Deck der Titanic“bezieht – sowie der Untertitel: Exaktes Denken am Rande des Untergangs. Beim allem Ernst des Themas erzählt Sigmund die Geschichte des Wiener Kreises mit einer gehörigen Portion Witz, fußnotenfr­ei und doch höchst quellenrei­ch. Zudem ist der wohlfeile Band mit famosem Bildmateri­al ausgestatt­et.

Die Geschichte des Wiener Kreises trüge „so viel Dramatik in sich, dass es Tolstoi oder Shakespear­e gebraucht hätte, um das entspreche­nd darzustell­en“, sagte Sigmund anlässlich der Eröffnung der Ausstellun­g am Dienstag. Man muss ihm widersprec­hen: Viel besser als er hätten die beiden es auch nicht hingekrieg­t. Klaus Taschwer Karl Sigmund, „Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rande des Untergangs“. € 20,55 / 361 Seiten. Springer Spektrum, Wiesbaden 2015

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