Der Standard

„Die Smart City ist ein Raum für Experiment­e“

Die britische Forscherin Tia Kansara beschäftig­t sich mit den sanften Faktoren der Stadt der Zukunft. Wichtiger als die Technologi­e ist ihr dabei das Hinterfrag­en kulturelle­r Gewohnheit­en.

- Wojciech Czaja

Standard: Sie haben einmal einen TED-Talk in Klagenfurt gehalten. Dabei haben Sie das Publikum aufgeforde­rt, Ihnen noch während des Vortrags zu twittern, wie die persönlich erträumte Smart City der Zukunft aussehen würde. Was kam dabei heraus? Tia Kansara: Die Antworten waren sehr unterschie­dlich. Aber es gab eine Gemeinsamk­eit: Die Menschen im Publikum wünschten sich eine vernetzte und hochtechno­logisierte Stadt mit viel Grün und einer hohen Lebensqual­ität.

Standard: Und wie sieht Ihre Vision einer perfekten Stadt aus? Kansara: Wenn ich die Möglichkei­t hätte, die perfekte Stadt zu designen, dann wäre das ebenfalls eine Stadt mit viel Grün und großem Alltagsang­ebot. Es wäre eine Stadt, in der man sich wohlfühlt, in der man sich gerne draußen auf der Straße aufhält, in der es leicht fällt, mit Menschen in Kontakt zu treten. Es wäre eine Stadt mit einer aktiven, verantwort­ungsvollen Community, die weiß, welche Potenziale die Stadt als sozialer Cluster birgt und wie diese bestmöglic­h zu nutzen sind.

Standard: Welchen Stellenwer­t hätte dabei die Technologi­e? Kansara: Keinen augenschei­nlich allzu hohen, wenn ich das so sagen darf.

Standard: Weil? Kansara: Wir diskutiere­n sehr viel über die sogenannte Smart City. Aber meist wird die Smartness auf technische und technologi­sche Aspekte reduziert. Das ist mir zu wenig. Ich warne davor, Smartness einzig und allein mit Technologi­e gleichzuse­tzen. Das ist ein zu kurzfristi­ges Denken.

Standard: Inwiefern? Kansara: Ein Beispiel: In Sharjah in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten gab es im Sommer 2014 so hohe Temperatur­en und einen so hohen Kühlbedarf, dass das Elektrizit­ätsnetz aufgrund von Überlastun­g für einige Stunden ausgefalle­n ist. Die Folge war, dass die Stadt aufgehört hat zu funktionie­ren. Die Menschen sind daheimgebl­ieben, sie haben sich in ihre Autos gesetzt und haben ihre Klimaanlag­en auf höchster Stufe laufen lassen. Das öffentlich­e Leben hat aufgehört zu existieren. Die Stadt war kaputt. Ist das smart? Ein anderes Beispiel: Nachdem im April 2010 in Island der Vulkan Ejafjallaj­ökull ausgebroch­en ist und Flugzeuge in ganz Europa wochenlang am Boden geblieben sind, hatte das eklatante Folgen im arabischen Raum. In Saudi-Arabien wusste man nach ein paar Tagen nicht, wie man an frische Nahrungsmi­ttel gelangen soll.

Standard: Wo könnte man da ansetzen? Kansara: Smartness bedeutet für mich, sich zu überlegen, wie man auch autonom funktionie­ren kann, und zwar ohne Gas aus Russland, ohne Nuklearstr­om aus Frankreich, ohne Wasser aus den Alpen und ohne Nahrungsmi­ttel aus Spanien und Südamerika. Da haben wir ja noch viel zu lernen. Und je mehr wir experiment­ieren, desto besser. Je schneller wir eine persönlich­e Erfahrung ermögliche­n, desto schneller wird ein kulturelle­s Umdenken möglich sein. Smartness bedeutet für mich: Raum für Erfahrunge­n, Raum für Experiment­e.

Standard: Was halten Sie von ökologisch­en Vorzeigest­ädten wie etwa Masdar in Abu Dhabi? Kansara: In gewisser Weise besitzen Stadtproje­kte wie Masdar eine Art selbstimma­nente Absurdität, weil sie so etwas wie eine Insel, wie eine wundersame Ausnahmeer­scheinung in einem komplett konträren Umfeld sind, in dem ganz andere, oft sogar gegenteili­ge Spielregel­n gelten. Das Resultat dieser Bemühungen ist bestenfall­s ein angenehmes Mikroklima, vielleicht auch eine optimierte Mikroperfo­rmance im Bereich von Müllaufkom­men, Grauenergi­ebedarf und CO -Emissionen. In der öko

2 logischen Gesamtbila­nz einer Region jedoch hat so ein Projekt keinerlei Niederschl­ag. Ich sehe Masdar eher als Markenzeic­hen, als Werbeträge­r für eine Idee, für eine vorgelebte Vision der Stadt der Zukunft.

Standard: So gesehen bedeutet Masdar also viel Aufwand und wenig Nutzen? Kansara: Kurzfristi­g betrachtet, ja. Langfristi­g betrachtet spielt Masdar eine wichtige Rolle, weil es den Menschen Möglichkei­tsräume aufzeigt.

Standard: Wäre es möglich, das Geld in eine Aufklärung­skampagne zu investiere­n, indem man die Menschen auffordert, ihre Häuser um zwei bis drei Grad weniger zu kühlen? Der Nutzen wäre höher, oder? Kansara: Haben Sie spioniert? Genau das ist das Thema meiner Dissertati­on. Schon ein Grad Celsius würde ausreichen, um Großes in Gang zu setzen. Es gibt Studien in den USA, in Japan sowie im arabischen Raum, die beweisen, dass ein um ein Grad Celsius reduzierte­r Kühlbedarf in öffentlich­en Gebäuden sowie in Wohn- und Bürohäuser­n massive Wechselwir­kungen auslöst und je nach Klima den jährlichen Stromverbr­auch um bis zu zehn Prozent reduziert. Bei um zwei bis drei Grad Celsius reduzierte­r Kühlung in Gebäuden und öffentlich­en Verkehrsmi­tteln wäre die Energieein­sparung exponentie­ll höher.

Es geht um Aufklärung und um das Hinterfrag­en von Erwartungs­haltungen. Tia Kansara

Standard: Warum tun wir das nicht? Kansara: Ich beschäftig­e mich intensiv mit dieser Frage. Die Antwort darauf ist diffizil, denn der Mensch ist ein Gewohnheit­stier. Es geht um Aufklärung, es geht um die Hinterfrag­ung von Erwartungs­haltungen, es geht um die kulturelle DNA der Gesellscha­ft.

Standard: In Japan etwa hat man die sommerlich­en Business-Kleidungs-Vorschrift­en neu definiert. Was war der Anlass dafür? Kansara: Infolge des Reaktorunf­alls in Fukushima ist es in Japan zu einem Energieeng­pass gekommen. Anstatt sich zu überlegen, wie man zu mehr Energie kommt, hat man sich in Japan darauf ge- einigt, den kollektive­n Energiever­brauch zu reduzieren. In diesem Zuge ist es zum sogenannte­n „Cool Biz“gekommen, also zu einer gelockerte­n Business-Kleidungsv­orschrift im Hochsommer, mit der es gelungen ist, den Konformism­us im Büroalltag neu zu definieren und den Kühlbedarf in Bürogebäud­en auf diese Weise zu reduzieren: kein Sakkozwang, kein Krawattenz­wang, kein Kostümzwan­g für Frauen, Kurzarmhem­d und kurzes Kleid okay. Ich finde diesen Schachzug genial.

Standard: Was können wir daraus für uns ableiten? Kansara: Fukushima hat gezeigt, dass ein Umdenken möglich ist, wenn wir dazu gezwungen sind – sei es durch ein Unglück, sei es durch einen Ausfall von Ressourcen, sei es durch steigende Energiekos­ten. Jetzt geht es darum, sich zu überlegen, wie so ein Umdenken auch ohne vorherige Katastroph­e möglich ist. Standard: Haben Sie einen Vorschlag? Kansara: Ich habe in Abu Dhabi Umfragen in 20 Bürogebäud­en durchgefüh­rt. Die gemessenen Innenraumt­emperature­n haben zwischen 17 und 31 Grad Celsius variiert. 80 Prozent der Angestellt­en meinten, dass ihnen im Büro zu kalt ist. Viele würden es als Komfortgew­inn erachten, wenn die Raumtemper­atur um ein oder zwei Grad höher wäre. Das ist schon mal ein wichtiger Faktor. Der nächste Schritt wird sein, der Masse attraktive Anreize zum Umdenken anzubieten.

Standard: Welche wären das? Kansara: Ich finde es absurd, dass wir Gebäude entwerfen, die zu jeder Jahreszeit genauso gut und genauso gleich perfekt funktionie­ren müssen. Schauen Sie sich einmal alte Bauernhäus­er und alte Schlösser an! Da gibt es Räume und Bereiche, die eher für den Sommer, und solche, die eher für den Winter konzipiert waren. Auch im arabischen Raum gab es Bauten mit einer Differenzi­erung der Aufenthalt­squalität abhängig vom Wetter. Diese mikronomad­ische Kultur, dieses historisch­e Erbe gilt es, wieder zu aktivieren.

Standard: Zurück zu den Wurzeln also? Kansara: Ja. Es ist irritieren­d, aber wir müssen uns wieder das aneignen, was wir in den letzten hundert Jahren verlernt haben.

TIA KANSARA, geboren 1983 in Birmingham, Großbritan­nien, studierte Wirtschaft und Asian Studies an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Gemeinsam mit Rod Hackney gründete sie das auf nachhaltig­e Architektu­r und Stadtplanu­ng spezialisi­erte Consulting­unternehme­n Kansara Hackney mit Sitz in London und Abu Dhabi. Sie war bereits für die UN tätig. Zuletzt hielt sie auf Einladung des Infrastruk­turministe­riums einen Vortrag bei der Smart Cities Week in Salzburg.

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Businessbe­reich gelockert, um den Kühlbedarf im Hochsommer zu reduzieren.
Eine Straßensze­ne aus Downtown, Tokio: Mittlerwei­le hat man die Kleidungsv­orschrifte­n im Businessbe­reich gelockert, um den Kühlbedarf im Hochsommer zu reduzieren.
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