Zum Glück braucht man keine Asphaltstraßen
In Bhutan, dem Land des Bruttonationalglücks, wehrt man sich gegen zu viel wirtschaftliche und kulturelle Einmischung von außen, auch wenn die junge Demokratie dadurch hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt.
WANALYSE: ie viele Teller habt ihr in euren Häusern?“, will der 21-jährige Bhutaner Tshedrup Dorji von den österreichischen Besuchern wissen. Fünf bis sechs Teller, wie sie in einem durchschnittlichen europäischen Haushalt wohl zu finden sind, beeindrucken ihn nicht. „Hier quellen die Schränke über, schließlich laden wir die ganze Nachbarschaft ein“, sagt er. Symptomatisch und bedauerlich sei es, dass in den westlichen Gesellschaften Gemeinschaft nichts mehr zähle, das Individuum dafür umso mehr. Der Zerfall der Familie, Anonymität in Großstädten, Ablenkung durch Konsum und Unterhaltung: Mit diesen Entwicklungen bleibe er in Bhutan noch verschont.
Es sind glorifizierende Bilder, die vom sagenumwobenen, abge- schiedenen Binnenland Bhutan bisweilen die Runde machen. Mit dem Bruttonationalglück wurde vom vierten König Jigme Singye Wangchuck auch der passende Maßstab gefunden, um der Welt ein positives Bild zu vermitteln. Niedrige Kriminalitätsraten, ein freies Bildungs- und Gesundheitssystem sowie vielfach unberührte Natur – das alles kann Bhutan für sich in Anspruch nehmen. Gleichzeitig sorgen allerdings die Tourismuspolitik mit einer Gebühr von 250 Dollar (223 Euro) pro Tag und Nächtigung und starke Restriktionen für Auslandsinvestoren dafür, dass der Einfluss von außen gering gehalten wird.
Der Impetus dahinter: Die 750.000 Einwohner sollen ihre Kultur und ihre buddhistische Religion bewahren, auch wenn das mitunter den Fortschritt verlangsamt. Bhutan zählt nach wie vor zu den ärmsten Staaten der Welt, das mittlere Monatseinkommen einer Person auf dem Land beträgt 33 Euro, in der Stadt 95 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei 1,6 Milliarden Euro. Außerdem hat das Land mit einem hohen Handelsbilanzdefizit zu kämpfen und steht in großer Abhängigkeit zum Nachbar Indien, mit dem 90 Prozent des Handelsaustauschs passieren.
Sichtbar wird der niedrige Entwicklungsstand an der fehlenden Infrastruktur. Die meisten Hauptverkehrsverbindungen in den Bergen sind nicht asphaltiert, auf dem Land gibt es oftmals kein fließendes Wasser. Strom ist keine Selbstverständlichkeit.
Die 34-jährige Sonam Yuden ist eine, deren Haus 2009 durch österreichische Entwicklungshilfegelder an das Stromnetz angeschlossen wurde. „Jetzt muss ich nicht mehr neben dem Herd stehen, sondern kann den Reiskocher anstecken“, sagt die Mutter von vier Kindern. Ihr zweieinhalbjähriger Sohn sitzt auf ihrem Schoß und spielt währenddessen mit dem Smartphone.
Es sind solche Gegensätze – einerseits nur notdürftige Infrastruktur, andererseits die steigende Nutzung sozialer Medien unter den Jugendlichen –, die in Bhutan aufeinanderprallen. Die ältere Generation sieht es mit Argwohn, wenn die Jugend in der Hauptstadt Thimpu den neuesten Fashiontrends aus Südkorea mehr abgewinnen kann als der traditionellen Tracht, die für Amtswege vorgeschrieben ist.
Doch politisch ticken die Uhren in Bhutan noch anders als anderswo. Oppositionsführer Pema Gymatsho, der einst selbst als Minister im Regierungskabinett saß, vergönnt der jetzt regierenden demokratischen Volkspartei (PDP) den Erdrutschsieg im Jahr 2013. Ideologisch gebe es keine großen Unterschiede zum Counterpart. Links oder rechts der Mitte, diese Diskussionen werden in Bhutan nicht geführt. „Es kann natürlich sein, dass das noch kommt, aber ich hoffe, es dauert“, sagt der derzeitige Premierminister Tshering Tobgay gegenüber österreichischen Journalisten.
2007 wurde die Demokratie von oben vom vierten König eingeführt. „Fast widerwillig haben wir – die ehemaligen Mitglieder der Nationalversammlung – uns dann zu Parteien zusammengeschlossen“, schildert Premierminister Tobgay die Ereignisse. Die Reaktion der Bevölkerung auf die Aussicht, wählen zu dürfen, war ähnlich: „Die Menschen hier wollten die Demokratie zuerst nicht. Deshalb ist die Gefahr, dass dieses Projekt scheitert, auch um vieles größer.“
35-jähriger König verehrt
Nach wie vor hält die Bevölkerung große Stücke auf die politischen Zwischenrufe des derzeit amtierenden 35-jährigen Königs Jigme Khesar Namgyel Wangchuck und der obersten Vertreter des Buddhismus, die sich derzeit zum Beispiel gegen eine Aufhebung des Schlachtverbots stellen, obwohl Bhutan einen hohen Fleischkonsum hat. Einig sind sich alle, dass die Stabilität des Landes nur durch Harmonie sicherzustellen ist. Gemessen wird diese auch über das Bruttonationalglück, das neben dem sozioökonomischen Fortschritt, der Bewahrung der Kultur, dem Umweltschutz und der guten Regierungsführung einen wichtigen Platz einräumt.
Theorie und Praxis – das gestehen auch die Bhutaner ein – klaffen mitunter weit auseinander. Auf dem Papier ist das Land nicht das paradiesische Shangri-La. Die Suizidrate ist seit einiger Zeit im Steigen. Noch mehr Sorgen bereitet der Politik aber die steigende Jugendarbeitslosigkeit, die die Gesellschaft als Ganzes erschüttern könnte. Eine radikale Öffnung oder ein Umbruch durch Proteste sind dennoch unwahrscheinlich, wie ADA-Büroleiterin Christine Jantscher befindet: „Wenn Bhutan das, was seine Besonderheit ausmacht, verliert, verliert es insgesamt auch sehr viel Geld.“Die Reise erfolgte zum Teil auf Einladung der Austrian Development Agency (ADA).