Gut gelaunt in die Vergessenheit
Am Samstag findet das Finale des 60. Song Contest in Wien statt. Ungeachtet seines Ausgangs steht die Veranstaltung für ein Lebensgefühl der Offenheit. Man toleriert sogar die Musik.
Am Samstag beschert der 60. Eurovision Song Contest Wien zwei Demonstrationen. Zur einen hat Georg Immanuel Nagel aufgerufen. Den hatte man als kurzzeitigen heimischen Pegida-Sprecher von erst zu erlangender Eloquenz schon wieder vergessen. Er führt Beschwerde gegen die Dekadenz, die der Song Contest seiner Meinung nach versinnbildlicht.
Die andere Demonstration findet in der Stadthalle statt. Während die Demo vor der Tür höchstens unfreiwillig lustig werden dürfte, wird in der Halle Lebensfreude zelebriert. Dazu dient Popmusik als Vehikel. 27 Nationen werben singend und tanzend um Publikumsgunst, hunderte Millionen Zuseher werden vor ihren TVGeräten sitzen.
Dabei wird kaum ein Beitrag längerfristig Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Andy Warhols „15 minutes of fame“werden beim Song Contest auf drei Minuten eingedampft. Immerhin setzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer damit ein Signal des friedvollen Miteinanders, wenngleich manche Beiträge den im Zusammenhang mit dem Song Contest vielgelittenen Terminus Toleranz ganz schön strapazieren.
Eine Toleranzprüfung ist die Veranstaltung musikalisch betrachtet schon lange, der gegenseitigen Akzeptanz soll das jedoch nichts anhaben. Schließlich wurde der Song Contest in den 1950ern aus der Idee geboren, Nationen friedlich zusammenzuführen, die sich wenige Jahre zuvor noch als verfeindete Armeen im Zweiten Weltkrieg gegenübergestanden sind.
Diese kulturelle Diplomatie steht bis heute über dem künstlerischen Anspruch, sie bildet die Aura des Song Contest, sein Lebensgefühl. Das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, diverse Rivalitäten und Reaktionen auf politische Umstände in Teilnehmerländern schlagen sich in der Punktevergabe nieder, und manch ein Beitrag mag zynisch wirken. Etwa wenn Russland aktuell Polina Gagarina als Friedenstäubchen in den Bewerb entsendet, wenngleich das nicht bedeuten soll, dass die russische Bevölkerung nicht in Frieden leben möchte.
Die Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren geprägt von einem neuen Patriotismus ehemaliger Blockstaaten und neuer Nationen. Popkultur stand dort für persönliche Freiheit, die lange unterdrückt worden war. Während der Contest in Westeuropa zusehends belächelt und oft nur noch satirisch reflektiert wurde, nahmen ihn viele neue Staaten als identitätsstiftende Außenwerbung ernst und versuchten auf dem Feld der Popkultur Anschluss an die Gegenwart zu finden.
Die Talsohle des Ansehens
Die Reputation des Contest durchlitt in den Nullerjahren ihre Talsohle, als ihn Teilnehmer wie die Deutschen Guildo Horn, Stefan Raab oder der österreichische Kabarettist Alf Poier verarschten. Dass ausgerechnet Poier 2003 Österreichs beste Platzierung seit langem erreichte, diagnostizierte schaurig den Zustand der Veranstaltung. Andererseits waren ernstgemeinte Versuche oft nicht besser. Eingedenk dieser Erkenntnis sah Österreich mehrere Jahre lang von einer Teilnahme ganz ab.
Der Sieg von Conchita Wurst im Vorjahr mag dem Song Contest eine neue Qualität verliehen haben. Ihr Triumph war ein paneuropäisches Statement gegen die Anfeindungen, denen die Kunstfigur des Thomas Neuwirth ob ihres Spiels mit sexueller Identität im Vorfeld des Finales ausgesetzt worden war. Zumindest hierzulande löste sie damit anhaltende gesellschaftliche Debatten aus.
Dass diese stattfinden müssen, zeigt, wie schwer sich viele mit der Toleranz schon tun, wo doch die Akzeptanz das Ziel ist. Musikalisch mag Wurst vernachlässigbar sein, als Symbolfigur wird sie über den 60. Song Contest hinaus wirken. Dementsprechend verblassen die heuer für Österreich als Gastgeberland antretenden The Makemakes. Weder ihr Lied
noch die Band steht für irgendetwas Besonderes. Also wird sie wohl den Weg der meisten Song-Contest-Teilnehmer gehen, den ins Vergessen.