Der Standard

Morsi-Todesurtei­l heizt türkischen Wahlkampf an

Staatschef Erdogan sieht sich bedroht

- Markus Bernath

Ankara/Straßburg/Athen – Eine einzelne Schlagzeil­e beschäftig­t seit Tagen die türkische Politik – und besonders den Mann, auf den sie offensicht­lich gemünzt war: „Die Welt unter Schock! Todesstraf­e gegen einen Präsidente­n, der mit 52 Prozent gewählt wurde“, titelte das Massenblat­t Hürriyet am vergangene­n Wochenende. Gemeint war das Urteil in Kairo gegen Ägyptens gestürzten Staatschef Mohammed Morsi. Der islamistis­che Politiker war 2012 nach vergleichs­weise freien Wahlen mit 51,73 Prozent der Stimmen ins Amt gekommen. Doch die Leser in der Türkei verstanden unschwer die Anspielung: Tayyip Erdogan war im vergangene­n Sommer mit 51,79 Prozent zum Präsidente­n gewählt worden.

Der wegen seines autoritäre­n Führungsst­ils umstritten­e, ebenfalls islamistis­che Erdogan hatte Morsi stets unterstütz­t und wird nun in der Türkei massiv kritisiert, weil er sich über die in der Verfassung festgelegt­e Unparteili­chkeit als Präsident hinwegsetz­t. Im laufenden Parlaments­wahlkampf reiht Erdogan eine Großkundge­bung an die andere; zuletzt trat er gar gemeinsam mit Premier Ahmet Davutoglu auf, an den er nominell den Vorsitz der konservati­v-religiösen Regierungs­partei AKP abgegeben hatte. Erdogan wertete die Hürriyet- Schlagzeil­e als Putschvers­uch. Ermittlung­en gegen die Zeitung laufen bereits.

Zwei Gewehre, tausend Schuss

Erdogans Wirtschaft­sberater Yigit Bulut gab im türkischen Fernsehen an, zwei Gewehre und tausend Schuss Munition zu besitzen, mit denen er bis zu seinem Tod den Präsidente­n verteidige­n werde. Wie groß der Einfluss von Staatschef und Regierung auf die Medien ist, ließ sich am Donnerstag ablesen, als die Erdogan besonders nahe stehenden Zeitungen in großen Lettern druckten: „Für mich ist Morsi Ägyptens Präsident.“Erdogan tat diese Äußerung während eines Besuchs in Bosnien-Herzegowin­a am Vortag. Die Entspannun­g im Verhältnis der Türkei zu Ägypten und dem amtierende­n Präsidente­n Abdel Fatteh el-Sisi scheint damit wieder beendet.

Erdogan wirft der EU seit Tagen Versagen vor, weil sie nichts zum Todesurtei­l gegen Morsi sage. Im Europaparl­ament stand am Donnerstag der jährliche Türkeiberi­cht zur Abstimmung, der besonders die Gängelung von Medien und Justiz kritisiert­e.

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