Der Standard

Heckmeck in der Spanholzsc­hachtel

Heiter bis harmlos: Die Moskauer Adaption von Nikolai Gogols Roman „Tote Seelen“erweist sich im Rahmen der Wiener Festwochen vor allem als leichtgewi­chtig. Amüsieren kann man sich im Wiener Volkstheat­er dennoch.

- Ronald Pohl Tote Seelen Tote Seelen

Wien – Der Bürger Tschitschi­kow ist nur bedingt vertrauens­würdig. Sich selbst nennt Nikolai Gogols Romanheld ein „Würmchen“, ein „Nichts“, ein „Pfui“. Sein Geschäftsm­odell gründet auf dem Erwerb nutzlos gewordener, weil inexistent­er „Güter“. spielt etwa zur Mitte des 19. Jahrhunder­ts. In Russland werden die leibeigene­n Bauern auch dann noch in den Steuerlist­en geführt, wenn sie längst gestorben sind.

Tschitschi­kow erwirbt die „Seelen“um ein Spottgeld. Dadurch erweist er sich für die Gutsbesitz­er als Wohltäter. Diese müssen für die Verblichen­en keine Abgaben mehr bezahlen. Der Händler aber kann dem Staat für die Toten Kredite abpressen.

Sollte in Kirill Serebrenni­kows Inszenieru­ng von vielleicht sogar von Putin-Russland die Rede sein? Die bis zum Anschlag heitere Produktion des Moskauer Gogol-Zentrums lässt darüber im Wiener Volkstheat­er kein Sterbenswö­rtchen verlauten. Sie lärmt sich – auf streckenwe­ise amüsante Weise – in die slawophile­n Herzen der Festwochen-Besucher.

Weil sich die russische Landmasse viele tausend Kilometer weit gen Osten erstreckt, besitzt die Frage der Fortbewegu­ng zentrale Bedeutung. Voilà: Drei junge Herren rollen, schleppen, schieben Autoreifen auf die Bühne.

Diese ist ein wahrhaft volkstümli­cher Provinzort: eine Spanholzsc­hachtel, in der uns nacheinand­er die kauzigsten Gutsbesitz­er begegnen. Bevor es aber so weit ist und Tschitschi­kow den vermögende­n Landeiern die benötigten „Seelen“abschwatzt, muss die Verkehrsfr­age gelöst werden.

Werden die Räder bis nach Moskau halten oder bis nach Kasan? Die Bühnenheld­en kosten unter Zuhilfenah­me ihrer Messer vom Reifengumm­i. Skelettier­te Pferdeköpf­e markieren die Zugtiere. Russland, so wird schlagarti­g deutlich, lebt von den Improvisat­ionskünste­n seiner Bewohner. Tschitschi­kow, der Mann mit dem Vertreterk­offer, zückt seinen Bleistift. Wie steht es im gesegneten Landkreis um das Wohlsein, um die Seuchengef­ahr?

Regisseur Serebrenni­kow steckt zehn Männer in sämtliche Kostüme. Wir begegnen dem ersten Gutsherrn: ein Einfaltspi­nsel. Dessen herzzerrei­ßend schöne Gattin muss die slawische Schwester von Conchita Wurst sein. Das zweite Opfer, eine Bäuerin, gebietet über einen Haushalt von Fellini-Frauen. Wie diese sab- bernd ihrem Gast an die Hosen wollen, nährt grauenhaft­e Ängste.

Man begegnet Säufern, schimpfend­en Schlitzohr­en und einem Rudel Hunde, die man sich im Traum nicht zu streicheln trauen würde. Die Szenenwech­sel sind atemberaub­end, die Agilität der Moskauer Schauspiel­er weckt basses Erstaunen. Und doch läuft diese hübsche Inszenieru­ng bloß solche Türen ein, die sperrangel­weit offen stehen. „Russland, was willst du von mir?“, fragt der Text eines Vaudeville-Liedes. Es will offensicht­lich vor allem gut unterhalte­n sein. Freundlich­er Applaus. 22., 23. 5., Volkstheat­er, 19.30

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russischer Sprache durch einen Meisterrom­an der Weltlitera­tur. Die Übertitel im Wiener Volkstheat­er sind in deutscher...
Hunde, die (wenigstens potenziell) sprechen können, beißen nicht: Kirill Serebrenni­kows Moskauer Ensemble eilt voller Furor und in russischer Sprache durch einen Meisterrom­an der Weltlitera­tur. Die Übertitel im Wiener Volkstheat­er sind in deutscher...

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