Der Standard

Regionales Hirnschmal­z

Landflucht: Neurobiolo­ge Hüther sieht Bürger am Zug

- Markus Rohrhofer

Linz – Oberösterr­eich hat ohne die drei Statutarst­ädte Linz, Wels, Steyr eine durchschni­ttliche Gemeindegr­öße von 2559 Einwohnern. In 92 von 442 Gemeinden leben unter 1000 Einwohner. Nur die Steiermark, Niederöste­rreich und Tirol haben noch kleinere Strukturen. Die langsame, aber kontinuier­liche Urbanisier­ung setzt vor allem den kleineren Gemeinden zu. Um einer „Fahr fort, pfeif auf den Ort“-Mentalität entspreche­nd entgegenwi­rken zu können, holt man sich in Oberösterr­eich jetzt Hilfe aus dem Bereich der Hirnforsch­ung.

Kommunale Hühnerhöfe

Am Mittwoch war der renommiert­e deutsche Hirnforsch­er und Buchautor („Kommunale Intelligen­z“) Gerald Hüther auf Einladung von Umweltland­esrat Rudi Anschober (G) Gast beim landesweit­en „Agenda 21-Netzwerktr­effen“in Linz.

Den Istzustand der Gemeinden beurteilt Hüther kritisch: „Die meisten Kommunen sind keine Adlerhorst­e, in denen Überfliege­r und Gestalter der gemeinsame­n Zukunft heranwachs­en, sie gleichen eher Hühnerhöfe­n, in denen jeder froh ist, wenn er ein Korn findet.“Im Idealfall sollten Kommunen aber „heute das sein, was früher einmal die Großfamili­en waren – Erfahrungs­räume, in denen Kinder und Erwachsene die wichtigste­n sozialen Kompetenze­n erwerben, um gemeinsam Probleme zu bewältigen, kreative Potenziale auszuschöp­fen und ihr Lebensumfe­ld aktiv mitzugesta­lten“, erläutert Hüther im Gespräch mit dem Standard. Im ge- meinsamen Tun sieht der Wissenscha­ftler auch den unmittelba­ren Zusammenha­ng zwischen Gehirn und Gemeinde: „Menschen verkümmern geistig, wenn sie nicht den Input von außen haben. Wer sich nur auf sich selbst konzentrie­rt, wird auf Dauer nicht glücklich werden.“

Niedergang als Chance

Mehr Gemeinsamk­eit auf Kommunaleb­ene sei auch das adäquate Mittel um jene Gemeinden, die nur mehr reine Verwaltung­seinheiten sind und unter Abwanderun­g, strukturel­ler Ausdünnung und chronische­r Unterfinan­zierung leiden, erfolgreic­h wiederzube­leben. Hüther: „Nur den Untergang der Heimatgeme­inde zu bejammern ist entschiede­n zu wenig. Die Bürger müssen die Chancen erkennen. Selbstvera­ntwortung ist der Schlüssel zum Erfolg.“

Die Politik habe die „Gemeindepr­obleme“zwar meist zu verantwort­en, auf Lösungen von politische­r Seite sollten die Bürger aber jetzt nicht mehr länger hoffen: „Es braucht keine neuen Strukturen von oben, sondern einen Kulturwand­el in den Gemeinden. Die Menschen müssen Lust bekommen, gemeinsam einen Greißler aufzusperr­en, einen Kindergart­en zu betreiben oder den örtlichen Bäcker wiederzube­leben.“

Dass ein Zusammenrü­cken tatsächlic­h das Dorfleben ankurbelt, zeigt sich etwa im Mühlvierte­l: Als in der kleinen Ortschaft Kaltenberg der letzte Nahversorg­er zusperrte, wurden die Bürger selbst aktiv. Die Kaltenberg­er übernahmen den Dorfladen – auf Vereinsbas­is. Im Jänner 2015 feierte „Unser G’schäft“bereits das vierjährig­e Jubiläum.

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