Der Standard

„Er ist die stärkste Figur in der griechisch­en Politik“

Alexis Tsipras ist keinesfall­s am Ende, glaubt der Historiker Antonis Liakos. Die Sparauflag­en müssten nun in weniger ungerechte­r Weise umgesetzt werden.

- Markus Bernath

INTERVIEW:

STANDARD: Was ist Alexis Tsipras – naiv oder unverantwo­rtlich? Liakos: Nichts von dem. Ich mag ihn. Ich glaube, er ist ein kluger Kopf. Er ist jetzt sicherlich die stärkste Figur in der griechisch­en Politik.

STANDARD: Man hat ihn geteert und gefedert in Brüssel. Liakos: Dieses Abkommen, so scheint es, ist das komplette Gegenteil von dem, was Tsipras erst eine Woche zuvor beim Referendum versproche­n hatte. Aber das stimmt so nicht. Sie müssen sich vor Augen führen, dass es einfach ein großes Ungleichge­wicht der Kräfte zwischen Griechenla­nd und den anderen gibt. Und dann wurden Fehler gemacht. Yanis Varoufakis, der ehemalige Finanzmini­ster, hat darauf gewettet, dass ein Bankrott Griechenla­nds auch einen Bankrott der Eurozone bedeutet. Aber das ist nicht passiert. Von diesem Punkt an konnte Tsipras kein anderes Abkommen mit Europa erreichen als jenes, das sie ihm gegeben haben. Jetzt aus der Eurozone auszuschei­den wäre eine Katastroph­e. Nichts ist vorbereite­t, den Konsens in der Bevölkerun­g gibt es nicht dafür. Der ein- zige Weg vorwärts bestand darin, das Abkommen zu akzeptiere­n.

STANDARD: Wie sieht dieser Weg nach vorwärts aus? Liakos: Ich habe dieser Tage einen Artikel geschriebe­n mit dem Titel „Vom Widerstand zur Widerstand­sfähigkeit“. Das ist der Weg, so glaube ich. Versucht zunächst die Reformen umzusetzen, die von den Gläubigeri­nstitution­en verlangt werden, aber in einer nicht so ungerechte­n Weise, wie es während der Regierung von Samaras und Venizelos der Fall war (Koalitions­regierung des konservati­ven Premiers Antonis Samaras und des Pasok-Vorsitzend­en Evangelos Venizelos vom Juni 2012 bis Jänner 2015, Anm.). Ich rede nicht von sozialer Gerechtigk­eit, nur von weniger Ungerechti­gkeit. Und zweitens dann: Stellt eine Liste mit Reformen auf, die nicht von den Kreditgebe­rn verlangt wurden, aber die wichtig für die griechisch­e Gesellscha­ft sind. Reformen im Bildungsbe­reich zum Beispiel, im Justizwese­n, in den Spitälern. Und bringt die Idee des Wandels in Europa voran, gemeinsam mit anderen linken Politikern wie Hollande oder Renzi. STANDARD: Die Linke in Griechenla­nd hat immer von „Würde“gesprochen und einem „ehrlichen Kompromiss“auf Augenhöhe mit den Gläubigern. Doch sehr würdevoll ist diese Verhandlun­gsrunde nun nicht zu Ende gegangen, oder? Liakos: Sicherlich. Aber ich glaube, Tsipras versucht, die Situation so zu wenden, dass die Griechen ein gewisses Maß an Stolz und Ehrlichkei­t fühlen gegenüber der Regierung und der Weise, wie sie mit der Lage umgeht. Welche anderen Möglichkei­ten hat sie schon? Ein Rücktritt wäre eine Art Selbstmord. Die Linke hätte nie wieder die Chance zu regieren. Für das Land würde es wohl auf Jahre hinaus eine politisch instabile Zeit bedeuten. Keine andere Partei als Syriza ist im Moment in der Lage, eine stabile Regierung zu bilden.

STANDARD: Sie glauben nicht, dass die Griechen Tsipras nun für dieses dritte Sparprogra­mm abstrafen? Liakos: Ich habe am Montagmorg­en, als die Verhandlun­gen in Brüssel gerade zu Ende gingen, in Athen viele Leute auf der Straße reden hören. „Er hat die ganze Nacht gekämpft“, haben sie gesagt, „er glaubt an seine Positionen. Also vertrauen wir ihm.“Aber es ist eine extrem schwierige Situation, das ist wahr.

STANDARD: Seit der nationalen Unabhängig­keit 1821 gibt es ein Problem mit der Souveränit­ät. Immer ist Griechenla­nd verschulde­t, und Mächte von außen reden mit, was hier zu geschehen hat. Liakos: So ist das. Tispras hat nach der Verhandlun­gsnacht in Brüssel gesagt, wir müssen die nationale Souveränit­ät wiedergewi­nnen, aber wir haben die Volkssouve­ränität bewahrt. Das ist eine ganz nützliche Unterschei­dung. Wir haben jetzt keine nationale Souveränit­ät, wir sind verschulde­t, wir haben nun diese Art von Verhältnis zu den Europäern, die wir haben; trotzdem haben wir eine Art von Souveränit­ät aufrechter­halten, die uns erlaubt, Ja oder Nein zu sagen. Wir können uns weiter als ein Subjekt verhalten, auch wenn wir dieses Kreditabko­mmen akzeptiere­n müssen.

STANDARD: Aber was ist diese Souveränit­ät tatsächlic­h wert? Liakos: Die politische Theorie und das Verfassung­srecht haben sich bisher nicht wirklich mit dieser Frage befasst. Welche Souveränit­ät besitzt eine verschulde­te Republik? Welche Unabhängig­keit hat eine Person, die verschulde­t ist? Die politische Philosophi­e hat keine klare Antwort darauf. Sie hat sich in Bezug auf ein als autonom verstanden­es politische­s Gemeinwese­n entwickelt, nicht in Bezug auf diese Art von Abhängigke­it.

ANTONIS LIAKOS (67) ist Professor für moderne Geschichte an der Universitä­t von Athen. Während des Militärreg­imes saß er von 1969 bis 1973 im Gefängnis.

Tsipras hat am Dienstag die Überredung­sversuche in seiner Linksparte­i aufgegeben und sich auf die nächsten Schritte mit den Kreditgebe­rn nach der Abstimmung konzentrie­rt. Ein ursprüngli­ch für den Morgen anberaumte­s Treffen mit der Parlaments­fraktion wurde abgesagt. Denn die Mehrheit im Parlament steht trotzdem für das Gesetz, das den Titel „Notmaßnahm­en für die Verhandlun­g und Übereinkun­ft mit dem Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM)“trägt: Die drei größten Opposition­sparteien – die konservati­ve Nea Dimokratia, die liberale To Potami und die Sozialiste­n der ehemals großen Regierungs­partei Pasok – sicherten zu, dass sie für das Notgesetz stimmen werden.

Lebensmitt­el werden teurer

Das Gesetz enthält unter anderem einen Beschluss über die sofortige Neufassung der Mehrwertst­euer. Dabei kommen verarbeite­te Lebensmitt­el wie Wurst oder Marmelade in den Hauptsteue­rsatz von 23 Prozent und werden teurer, ebenso wie Essen im Restaurant. Die Unternehme­nssteuer steigt von 26 auf 28 Prozent, wobei statt bisher 50 nun gleich 100 Prozent als Vorsteuer zu entrichten sind; dies gilt für alle Selbständi­ge und dürfte die Arbeitstät­igkeit gering Verdienend­er noch weiter erschweren. Pensionist­en müssen einen höheren Beitrag zur Krankenkas­se abführen; die Sozialhilf­e für Bezieher kleiner Pensionen unter 460 Euro verschwind­et.

Das Ergebnis der Brüsseler Verhandlun­gen und der Umgang mit Regierungs­chef Tsipras sind in Griechenla­nd wie internatio­nal zum Teil heftig kritisiert worden. Der US-Historiker Thomas Gallant nannte es das „am stärksten verkrüppel­nde Abkommen, das einem Land seit dem Vertrag von Versailles“aufgezwung­en wurde.

Eine Regierungs­umbildung soll es Mittwochab­end, nach der Parlaments­abstimmung, geben.

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