Der Standard

„Nie hätten wir das Grauen erahnen können“

Hans Reichenfel­d war eines von 10.000 jüdischen Kindern, die im Jahr 1938 mit dem Zug aus Österreich, Deutschlan­d, Polen und der Tschechosl­owakei nach England geschickt wurden. Mit 91 Jahren kam er in seine frühere Heimatstad­t Wien auf Besuch.

- Oona Kroisleitn­er

Wien – Ein riesengroß­er Koffer, vollgepack­t mit fein säuberlich zusammenge­falteten Hemden, Socken und einem Buch. Jedes Kleidungss­tück mit einem kleinen Namensetik­ett versehen: „Hans Reichenfel­d“. Der Koffer, eine Schachtel Schokolade und ein selbstgeba­ckener Strudel von daheim sind die einzigen Dinge, mit denen der Schüler 1938 am Wiener Westbahnho­f in den Zug nach England einsteigt.

Der damals 15-Jährige ist eines von 10.000 jüdischen Kindern aus Österreich, Deutschlan­d, Polen und der Tschechosl­owakei, die bis 1939 von ihren Eltern getrennt und aus dem Heimatland gebracht wurden. Vergangene Woche kam Reichenfel­d, der in Kanada lebt, mit 91 Jahren auf Besuch in seine ursprüngli­che Heimat.

„Immer viel politisier­t“

Als Siebenjähr­iger beginnt Reichenfel­d ein Tagebuch zu führen. Zu Beginn schreibt er Gedanken über Freunde oder Lehrer nieder. In seiner Jugend befasst er sich zunehmend mit gesellscha­ftspolitis­chen Fragen. „Unter den Juden ist immer viel politisier­t worden“, erinnert er sich im Hof des Wiener Kindertran­sportmuseu­ms „Für das Kind“. Die meisten seien links eingestell­t gewesen: „Wenn man in der Partei war, dann bei den Sozialdemo­kraten. Es war die Zeit des Roten Wiens.“

Reichenfel­d besucht das Akademisch­e Gymnasium am Beethovenp­latz. Im Winter verbringt er seine Freizeit im Eislaufver­ein nebenan; im Sommer gehen die Kinder in der Lobau schwimmen und spielen im Prater. Vom brodelnden Antisemiti­smus spürt der Bub in den 30er-Jahren wenig.

„Erst als Hitler nach Wien gekommen ist, war klar, dass das nicht einfach vorübergeh­en würde“, sagt er zum STANDARD. Unter seinen Lehrern gibt es einige, die von den jüdischen Schülern „nicht begeistert“sind. Nach der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten seien sie damit dann „rausgekomm­en“. Von nun an zeigen sie ihre Ablehnung offen.

Am 29. August 1938 verlässt Reichenfel­d Wien. Seine Familie bringt ihn bis auf den Bahnsteig; wegen der tragischen Abschiedss­zenen werden Eltern bei späteren Transporte­n dort nicht mehr hingelasse­n. Über Verwandte in der Schweiz soll Reichenfel­d nach Yorkshire in ein Internat. „Es war ein Abenteuer.“

Am 9. November 1938 wird Reichenfel­ds Vater im Zuge der Novemberpo­grome verhaftet. Die Politik der Nazis sei vielen Juden damals noch nicht klar gewesen. „Die Shoah kam erst später. Wir haben es nicht glauben können, dass die Nazis Juden nicht nur bestehlen und raushaben, sondern dass sie uns umbringen wollten – nie hätten wir das Grauen erahnen können.“Als der Vater aus der Haft entlassen wird, flüchtet die Familie. In England werden sie wieder vereint.

Nach zwei Jahren in Großbritan­nien stehen zentraleur­opäische Flüchtling­e 1940 unter Spionagege­neralverda­cht. Um zu verhindern, dass Informatio­nen an Deutschlan­d weitergege­ben werden, werden sie eingesperr­t. Nach einer Woche wird Reichenfel­d auf die Isle of Man geschifft; dann muss er nach Kanada.

Radioarbei­t mit Erich Fried

1941 kehrt er nach England zurück und engagiert sich bei der Exilorgani­sation Young Austria. Dort lernt er den Lyriker Erich Fried sowie Herbert Steiner, der später das Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­s gründet, kennen. Zu diesem Zeitpunkt dürfen Österreich­er noch nicht ins britische Militär eintreten. „Wenn ich schon nicht Dienst an der Waffe leisten konnte, so wollte ich wenigstens gute Propaganda machen“, erinnert sich der 91-Jährige. Gemeinsam mit Fried macht er Radiobeitr­äge, schickt Propaganda­schriften an die BBC.

Zwei Jahre später können sich Österreich­er freiwillig für die Streitkräf­te melden. Reichenfel­d will zur Royal Airforce, wird aber nicht als Pilot eingesetzt. Er wird Funkmechan­iker. Nach Kriegsende studiert er Medizin und geht nach Kanada, wo er bis heute lebt. Er arbeitet als Psychiater und Universitä­tslehrer in Ottawa. 1961 besucht erstmals wieder Österreich.

„Ich hatte eine schöne Kindheit in Wien. Bis dann plötzlich alles aus war“, sagt er. In Wien könne er in seiner Mutterspra­che sprechen. Sein Zuhause sei es aber nicht mehr. „Es ist zu lange her“, sagt er im Wiener Dialekt.

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hier im Hof des Wiener Kindertran­sportmuseu­ms stehend.
„Ich hatte eine schöne Kindheit in Wien“, sagt Hans Reichenfel­d – hier im Hof des Wiener Kindertran­sportmuseu­ms stehend.

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