Der Standard

Erdogans Spiel mit Lüge und Gewalt

Mit dem Wahlergebn­is konnte Erdogans Wunsch nach einer islamistis­chen Türkei gerade noch vereitelt werden. Nun gilt es, ihm keine Möglichkei­t zur Rückkehr zu bieten – dabei sollte den Türken auch Europa helfen.

- Erol Özkoray

Während die Verhandlun­gen zur Bildung einer Koalitions­regierung in der Türkei laufen, ist es wichtig, sich noch einmal die Ergebnisse der Parlaments­wahlen vom 7. Juni vor Augen zu führen.

Erstens: Die Islamisten, die Meister der Lüge und Täuschung, haben verloren, und die Volksgrupp­en in der Türkei wollen nicht länger einen Präsidente­n Erdogan. Zweitens: Die Wähler haben gerade noch den letzten Schritt vermieden, der sie von einem islamische­n Staat trennte. Erdogan, der Islamist, hat nun keine freie Hand, um seine „neue Türkei“zu vollenden, die nichts anderes ist als eine sunnitisch­e Diktatur, eine Art Präsidialr­egime, die auf einem Islamfasch­ismus gründet.

Doch heute hören die Politiker diese zwei grundlegen­den Botschafte­n schon nicht mehr, mit Ausnahme der Demokratis­chen Partei der Völker (HDP), deren Kovorsitze­nder Selahattin Demirtaş als der aufsteigen­de Stern der türkischen Politik gilt.

Diese ursprüngli­ch kurdische Partei, die zu einer landesweit­en linken politische­n Kraft geworden ist, nahm mit Leichtigke­it die weltweit einmalige Zehn-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament und erhielt 13 Prozent oder sechs Millionen Stimmen. Sie verhindert­e damit, dass die herrschend­e islamistis­che Partei AKP nochmals die absolute Mehrheit gewinnt. Dieses Ergebnis beweist, dass die Volksgrupp­en der Türkei die Republik und die Trennung von Staat und Religion behalten wollen, jene zwei entscheide­nden Werte für die Gestaltung einer demokratis­chen Zukunft. Es erleichter­t auch Europäer und Amerikaner, denn politisch, militärisc­h und wirtschaft­lich ist die Türkei ein Teil des Westens. Die türkischen Wählerinne­n und Wähler haben also im letzten Moment das Katastroph­enszenario vereitelt.

Gerichtlic­he Untersuchu­ng

Der amtierende Premiermin­ister Davutoglu, den Präsident Erdogan mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt hat, sieht das allerdings nicht so: Er will eine Koalitions­regierung, ohne den Fall Erdogan zu diskutiere­n, der die Verfassung systematis­ch verletzt. Denn die Personalis­ierung der Macht unter Erdogan, ihre Vereinheit­lichung, die nur den Eindruck einer Diktatur und einer maßlosen Korruption bestätigt, bedarf in der Tat einer juristisch­en Untersu- Krieg gegen Syrien lostreten und/ oder das kurdische Volk provoziere­n, um einen Bürgerkrie­g in der Türkei zu starten. Er könnte mit dem Feuer spielen, um die Stimmen, die er am 7. Juni an die Nationalis­ten verlor, wiederzuge­winnen.

Doch diese Szenarien könnten sich ebenso nochmals gegen ihn wenden. Die türkischen Wähler haben bewiesen, dass man sie nicht für dumm verkaufen kann.

Unter Erdogans Schutzherr­schaft nutzen die Islamisten systematis­ch zwei Mittel: Lüge und Gewalt. Sie werden alles tun, um an der Macht zu bleiben. Doch wie weit lässt man sie gehen? Europa muss in all diesen Szenarien eine Konfiszier­ung der Macht durch eine islamistis­che Partei sehen, die dieses Land nicht repräsenti­ert. Sie ist eine fremde Macht, eine Widerspieg­elung der Muslimbrüd­er. Dieser Islamismus dient einer internatio­nalistisch­en Idee des Sunnitentu­ms und vertritt in keiner Weise die Bestrebung­en eines Volkes, das für die Demokratie, den Laizismus und die universell­en Menschenre­chte lebt.

Widerstand und Wandel

Eine Opposition­spartei, die unter diesen Umständen mit den Islamisten eine Koalition eingeht, wird alles verlieren. Ein denkbares Bündnis der Islamisten mit den Nationalis­ten der MHP wäre eine katastroph­ale Entscheidu­ng für die Türkei. Doch in der türkischen Gesellscha­ft gibt es Strömungen, die in der Lage sind, radikalen demokratis­chen Widerstand zu leisten: die republikan­ischen, laizistisc­hen Türken in Europa, die Kurden und die Aleviten, deren Werte auf der Gleichheit von Mann und Frau beruhen. Und es gibt den Geist von Gezi, das heißt den Aufstand für den Schutz der demokratis­chen Errungensc­haften, den Rechtsstaa­t und die Laizität. Dies ist bereits der Anfang vom Ende der Islamisten. Ihre politische Ausschaltu­ng braucht Zeit, aber sie wird kommen, denn die innere Dynamik in der Türkei gibt es. Wenn es so weit ist, wird das Volk sie anwenden. Dafür ist es politisch reif genug.

EROL ÖZKORAY (61) ist wegen Beleidigun­g des türkischen Präsidente­n zu einer Gefängniss­trafe von elf Monaten und 20 Tagen verurteilt worden, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Er ist Politologe, Publizist und Politikber­ater, gemeinsam mit seiner Frau Nurten, einer Soziologin, hat er ein Buch über die GeziPark-Proteste veröffentl­icht. Seit Anfang Juli lebt das Ehepaar in Schweden. Aus dem Französisc­hen von Markus Bernath

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Erdogan küsst die türkische Fahne, doch die Wähler lassen sich nicht für dumm verkaufen: Eine laizistisc­he Mehrheit der Türken möchte in einer Demokratie leben, die ein Teil Europas ist.
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Foto: M. Bernath Erol Özkoray: keine Koalition mit Erdogan.

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