Der Standard

Ein Intranet der Bürger

Da müsste es eigentlich doch noch etwas anderes geben: Wenn die EU tragfähige Alternativ­en zu Internet- und Social-Media-Molochen wie Facebook oder Google entwickeln würde, käme ihr das auch politisch zugute.

- Bert Rebhandl

Neulich habe ich einmal nachgescha­ut, wie lange ich nun schon auf Facebook bin. Der erste Eintrag datiert aus dem Jahr 2009, eine belanglose Notiz darüber, dass ich damals die Serie Entourage geschaut habe. In den sechs Jahren seither hat sich eine Menge getan, in der richtigen Welt, aber auch im „sozialen Netzwerk“, das sich nach Kräften bemüht, die richtige Welt völlig in sich aufzunehme­n. Mein Umgang mit Facebook hat sich in der Zeit markant verändert.

Ich poste nur noch wenig, Persönlich­es eigentlich überhaupt nicht mehr. Zugleich bin ich weiterhin dankbar, wenn ich von Freunden Wanderfoto­s, Hinweise auf entlegene Lektüren, starke Meinungen oder witzige Selbstdars­tellungen präsentier­t bekomme. Ich befinde mich da also ganz offensicht­lich in einem Widerspruc­h, der aber leicht zu erklären ist: Facebook ist eine großartige Sache, die sich nur leider in den falschen Händen befindet.

Für mich persönlich war der Schlüsselm­oment, in dem ich innerlich auf Distanz ging, die Einführung der „Hauptmeldu­ngen“, also die Reihung der Nachrichte­n in der Timeline nach einem Algorithmu­s, den das Unternehme­n errechnet. Ich bekomme nicht mehr automatisc­h alles zu sehen, was meine digitalen Freunde posten, sondern es wird für mich vorsortier­t. Das ist an sich eine naheliegen­de Idee angesichts des Umstands, dass Facebook alles tut, damit ich so viele Freunde wie möglich, und längst schon zu viele, bekomme.

Gründe zur Vorsicht

Den Überblick, den man dabei verliert, schafft dann das Unternehme­n. So entsteht ein Freundeskr­eis zweiter Ordnung, gegen den man die eigene soziale Welt von Hand behaupten muss. Ich muss jedes Mal, wenn ich mich anmelde, die Einstellun­g „Neueste Meldungen“neu klicken, was mich jedes Mal daran erinnert, dass ich mich in einer Umgebung befinde, in der ich alle Gründe habe, vorsichtig zu sein.

Viele Nutzer empfinden das Unternehme­n als latent feindselig, aber es zählt zu den Vorzügen der digitalen Moloche, dass sie Kritik und Widerstand locker zu integriere­n vermögen. Wenn irgendwo interessan­te neue Formen des Austauschs auftauchen wie die Fotoseite Instagram, werden sie kurzerhand eingekauft. Im Übrigen setzen sie auf die Macht schierer Omnipräsen­z. Wer sich aus Facebook abmeldet, riskiert die digitale Isolation.

Es ist also hoch an der Zeit, über Alternativ­en nachzudenk­en. Doch dazu ist es scheinbar längst zu spät. Mit weit über einer Milliarde Teilnehmer­n ist Facebook in weiten Teilen der Welt längst alternativ­los geworden, ähnlich wie die Suchmaschi­ne Google. Ausnahmen bilden bezeichnen­derweise Systeme mit eingeschrä­nkter Freiheit: in erster Linie China, aber auch der Iran. Russland ist ein Sonderfall, weil dort das lokale Netzwerk VKontakte deutlich stärker als Facebook ist, aber das beginnt sich zu ändern, nicht zuletzt, seit VK mehr oder weniger enteignet und nationalis­iert wurde.

Privatleut­e wie der junge Datenschut­zaktivist Max Schrems, aber auch die europäisch­en Behörden setzen sich intensiv mit der Macht von Facebook auseinande­r. Die traditione­llen Medien beobachten mit Argwohn, wie sich das Netzwerk immer stärker zu einem Unternehme­n entwickelt, das bald selbst Nachrichte­n anbieten wird, was wiederum den Charak- ter von „Nachrichte­n“verändern wird.

Doch die Idee, dass es zu Facebook nicht nur Alternativ­en geben müsste, die der Markt schafft, wird kaum einmal ernsthaft erwogen. Sie entspricht einfach nicht dem Zeitgeist, schon gar nicht in einem Europa, in dem der Digitalkom­missar das absolut grundlegen­de Gut der Netzneutra­lität einfach so mit ein paar Gewinneinb­ußen der Telekomkon­zerne verrechnet. So darf man, wenn man mit Facebook nicht glücklich ist, zu Twitter wechseln, um dort ein leicht anderes Unbehagen zu pflegen. Und man kann resigniert dabei zuschauen, wie hie und da irgendwo jemand etwas probiert: Special-Interest-Netzwerke, Nischencom­munitys, erweiterte Chatrooms.

Was aber wäre, wenn wir das soziale Netzwerk einmal anders denken würden als in der Form, in der wir es von Facebook kennen? Nämlich als eine Form, die dem

deutlich

Den Überblick, den man verliert, schafft das Unternehme­n. So entsteht ein Freundeskr­eis zweiter Ordnung, gegen den man die eigene soziale Welt von Hand behaupten muss.

Internet als solchem so brillant entspricht, dass sie mehr oder weniger unausweich­lich war? Es gehört ja auch zur Gründungsg­eschichte von Facebook, dass die Idee in der Luft lag und dass Mark Zuckerberg einfach das Glück einer günstigen Konstellat­ion hatte. Sein Erfolg hat viel mit der Schwäche der Konkurrent­en zu tun, wie man zum Beispiel in John Dwyers Buch Money nachlesen kann.

Der Journalist der Times zeichnet darin das Schicksal von Diaspora nach, jenem dezentrale­n Netzwerk, das sich vier Studenten in New York 2010 ausgedacht haben, ausdrückli­ch als Alternativ­e zu Facebook. Sie wollten eine Struktur, in der die Daten bei den Usern liegen würden, vergleichb­ar den Torrentbör­sen, die ohne zentrale Server auskommen. Diaspora sollte auch von den Usern (mit)programmie­rt werden, ein anspruchsv­oller Begriff von Community lag der Sache zugrunde, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich damals ein Profil anlegte, aber kaum jemand dorthin folgen wollte.

Zentraler Widerspruc­h

Woran Diaspora scheiterte, ist letztlich nicht leicht festzumach­en: Aber ein zentraler Widerspruc­h war auf jeden Fall der, dass die vier Gründer zugleich mit „Angel Investors“in Kalifornie­n sprachen und mit Computerne­rds in aller Welt. Sie wollten das „next big thing“in Silicon Valley werden, ohne dabei den Kredit der Netzintell­igenz zu verspielen. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Und am Ende war es wohl doch, neben vielen persönlich­en, auch tragischen Umständen, das Geld, an dem Diaspora scheiterte. Zuckerberg war einfach von Beginn an viel profession­eller, inzwischen ist der Vorsprung von Facebook nahezu uneinholba­r. Mit viralen Spielen wie Farmville werden die Leute bei der Stange gehalten, doch es reicht eigentlich das schiere Quantum der Nutzer.

Wenn man über einen Gegenentwu­rf nachdenkt, müsste man also ganz anders ansetzen. Nicht auf ein nächstes gigantisch erfolgreic­hes Start-up setzen, sondern darüber nachdenken, was so ein Netzwerk im idealen Fall eigentlich sein müsste. Dann kommt man sehr schnell auf den Begriff Infrastruk­tur.

Ein digitales Netzwerk hat im 21. Jahrhunder­t eine vergleichb­are Funktion, wie sie Straßen oder Güterleitu­ngen traditione­llerweise haben. Facebook gibt sich ganz bewusst den Anschein, in eine vergleichb­are Kategorie zu gehören. Denn es wirbt weiterhin damit, dass die Mitgliedsc­haft kostenlos ist, ähnlich wie man bei den meisten Straßen keinen Gedanken daran verschwend­et, warum man sie einfach so befahren kann.

In beiden Fällen liegt aber ein unterschie­dliches Modell zugrunde: in dem einen das von Gemeinscha­ftsgütern, die durch Abgaben finanziert werden, in dem anderen das eines Unternehme­ns, das sozialen Austausch für die Opti- mierung seiner Gewinninte­ressen vorformati­ert.

Kann man sich also ein anderes Facebook vorstellen, ein öffentlich-rechtliche­s, das den Nutzern gehört? Die Sache wirft viele Fragen auf, aber es lohnt sich, das einmal als Gedankenex­periment durchzuspi­elen, auch wenn der Zeitgeist eindeutig in eine andere Richtung läuft und gerade das Beispiel Griechenla­nd zeigt, dass es um die Gemeingüte­r in Europa schlecht bestellt ist. Wie sollte es also bei einem sein, das es noch gar nicht gibt?

Ich stelle mir diesen Gegenentwu­rf im Ansatz als ein Intranet der Bürgerinne­n und Bürger vor. Der ideale Raum dafür wäre die Europäisch­e Union, eine Gemeinscha­ft mit über 500 Millionen Menschen, die sich als Verbindung demokratis­cher Staaten versteht und die mit so einem digitalen Netzwerk auch Modelle für künftige Partizipat­ionsformen erproben könnte.

Ein Netzwerk, in dem wir vielleicht auf zwei oder mehr Weisen vertreten sein könnten: als staatsbürg­erliche Subjekte und als Privatleut­e. Es müsste also vermutlich zwei oder mehr Ebenen haben, es müsste einerseits auf Kontakt mit Behörden und Instanzen hin gedacht werden (also auf Vereinfach­ung von Verwaltung), auch auf neue Formen der politische­n Entscheidu­ngsfindung, anderersei­ts auf persönlich­e Vernetzung sogar über den europäisch­en Raum hinaus, denn ein Netzwerk dieser Form macht für Individuen nur Sinn, wenn es global offen ist.

Die mächtigen Pioniere, die derzeit die Trends im Netz setzen, denken unverhohle­n schon über „virtuelle Staatlichk­eit“nach, erproben diese Ideen aber vor allem an Beispielen von Minderheit­en. Eric Schmidt und Jared Cohen von Google beschreibe­n in ihrem Buch über wie sich das kurdische Volk, das auf mehrere Staaten verstreut lebt, zu einer Form von digitalem Quasistaat zusammensc­hließen könnte, ein „Kurdish web“, das einer virtuellen Unabhängig­keitserklä­rung gleichkäme. Die Server müssten in einem neutralen oder befreundet­en Land stehen. „Dann kann man darauf aufbauen.“

Partikular­e Kriterien

Diese Idee geht in eine Richtung, die auch Staaten wie der Iran mit einem „halal net“verfolgen, nämlich (Intra-)Netzwerke nach partikular­en Kriterien zu entwickeln. Die Vordenker von Google und anderen digitalen Trusts verfolgen das mit größtem Interesse, weil sie alles dafür tun werden, um aus diesen Netzwerken nicht ausgeschlo­ssen zu werden.

Ein europäisch­es Intranet der Bürger wäre im Vergleich dazu in zweifacher Hinsicht revolution­är anders: Es hätte als Raison d’Être gerade kein partikular­es Projekt, sondern wäre so zu denken, dass es als Fortsetzun­g des universali­stischen Ansatzes der Aufklärung funktionie­ren könnte; und es bekäme im Gelingensf­all auch Modellchar­akter für eine neue Verhältnis­bestimmung zwischen Staatlichk­eit und Privatsphä­re unter den völlig veränderte­n Bedingunge­n des digitalen Zeitalters.

Entspreche­nd utopisch muss sich das alles anhören. Und es ist unumgängli­ch, sich noch einige praktische Fragen zumindest im Ansatz zu stellen. Die erste betrifft natürlich den ganzen Bereich der Datensiche­rheit. Macht es wirklich Sinn, sich eine konkret dann ja doch ziemlich gigantisch­e digitale Infrastruk­tur zu wünschen, die im Falle einer ungünstige­n politische­n Entwicklun­g jederzeit zu einem Einfallsto­r für Überwachun­g und Repression zu werden droht? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Alle diese Probleme sind längst gegeben, und es macht viel mehr Sinn, überhaupt einmal eine Struktur zu schaffen, die als digitaler Freiraum dann zu verteidige­n wäre (mit allem, was an Kompetenze­n dafür erst noch zu entwickeln ist), als von vornherein alles an die Konzerne auszuliefe­rn. In Zeiten, in denen eine Kanzlerin abgehört wird und in denen ein Bundestag gehackt wird, würde es keinesfall­s schaden, hätte Europa ein digitales Instrument, das zugleich politisch wie technisch als permanente­s Experiment liefe, in dem ich aber auch wieder gern meine Urlaubsfot­os zeigen würde.

Bürokratis­che Angelegenh­eit

Die nächste Frage muss nur auf den ersten Blick skeptisch stimmen: Wer soll das bezahlen? Die EU versteht sich in erster Linie als marktliber­al, hat de facto aber durchaus starke planwirtsc­haftliche Facetten. Nur dort, wo es derzeit wirklich darauf ankommt, versagt sie vollkommen, wie das Beispiel Desertec zeigt.

Stellen wir uns einmal vor, das Europäisch­e Parlament würde eine Rechtsform entwickeln, unter der dieses Intranet der Bürger laufen könnte. Und dann Gelder dafür bereitstel­len. Anfangs würden vermutlich Summen reichen, die bei einem Projekt wie Airbus in ein paar Jahren an Redundanzk­osten auflaufen. Und von Beginn an könnten interessan­te Ideen dazu in Kontakt gebracht werden. Denkbar wäre zum Beispiel, die erforderli­chen Serverkapa­zitäten so zu gestalten, dass sie mit der Dezentrali­sierung der Stromwirts­chaft zusammenge­dacht werden, in der viele Experten die Zukunft der Energiewen­de sehen. Das Intranet der Bürger könnte sogar dazu beitragen, ein fundamenta­les Problem zu beheben: dass nämlich, der Eindruck drängt sich auf, ein Gutteil der massiv vorhandene­n gesellscha­ftlichen Intelligen­z nicht in der Politik ankommt.

Und so wird es wohl auch bleiben. Selbst wenn es eines Tages so etwas wie eine digitale Infrastruk­tur für Bürgerinne­n und Bürger der EU geben sollte, ist damit zu rechnen, dass es sich um eine bürokratis­che Angelegenh­eit handeln wird, nicht zu vergleiche­n mit der Attraktivi­tät, die Facebook oder zu einem geringeren Teil auch Twitter ausüben. Die Sache würde aber nur dann Sinn machen, wenn sie als digitaler Lebensraum angenommen wird. Da stellen sich elementare Vertrauens­fragen gegenüber den staatliche­n und überstaatl­ichen Zusammenhä­ngen, in denen wir leben. Vertrauens­fragen, die sich bezeichnen­derweise gegenüber den Geräte- und Applikatio­nslieferan­ten nicht in demselben Ausmaß oder nur bei bestimmten Gruppen in der Gesellscha­ft stellen.

Dieser Umstand macht klar, dass die Konzeption und Realisieru­ng eines Intranets der Bürger ein demokratie­politische­s Experiment ersten Ranges wäre. Es könnte Europa aus seiner Legitimati­onskrise heraushelf­en, es wäre ein Integratio­nsfaktor, und es würde, weil es ja auf der persönlich­en Ebene nach außen hin offen wäre, den Modellchar­akter der demokratis­chen Versuche auf dem „alten“Kontinent einmal anders als mit Frontex und anderen Abschottun­gsstrategi­en sichtbar machen.

Schmidt und Cohen schreiben in ihrem Buch beiläufig auch von einem Konzept „digitalen Asyls“. Regimekrit­iker und Opposition­elle in unfreien Systemen könnten auf diese Weise in den liberalen Ländern digital unterkomme­n. Auch daraufhin wäre so ein Intranet der Bürger zu denken, das de facto damit zugleich ein Internet der freien Welt würde.

Während des Arabischen Frühlings war viel davon die Rede, dass Facebook und Twitter die Medien der Aufstände waren. Das war gute Propaganda für die Informatio­nskonzerne, kann aber nicht darüber hinwegtäus­chen, dass Freiheit, auch nur der Informatio­n, nicht deren Unternehme­nsziel ist. Es wird nie so sein. Deswegen wären wir gut beraten, auch wenn es auf den ersten Blick defensiv anmuten mag, die entspreche­nden Strukturen doch auf einer Ebene zu suchen, die für Europa konstituti­v ist: in einer demokratis­chen Öffentlich­keit, die dem Gemeinwese­n etwas zutraut und zumutet. Attraktiv wäre das dann ebenso, allerdings anders als Farmville.

In einem Netzwerk der Bürger als Modell für künftige Partizipat­ionsformen könnten wir auf zwei oder mehr Weisen vertreten sein: als staatsbürg­erliche Subjekte und als Privatleut­e.

Die mächtigen Pioniere, die derzeit die Trends im Netz setzen, denken unverhohle­n über ,virtuelle Staatlichk­eit‘ nach und erproben diese Ideen am Beispiel von Minderheit­en.

Bert Rebhandl, gebürtiger Oberösterr­eicher (Jg. 1964), lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin. Mitherausg­eber der Filmzeitsc­hrift „Cargo“. Er schreibt seit 1993 für den

und für die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“.

ALBUM Mag. Christoph Winder (Redaktions­leitung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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Ein Gedankenex­periment, das sich durchaus lohnen würde: Mehr Grips anwenden bei der globalen Vernetzung!
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Das Internet soll immer und überall sein: Google-Ballon über den Bergen von Neuseeland.
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